Zwei Plastikkarten um den Hals sind der Schlüssel. Vorbei an den Sicherheitsbeamten mit schwarzen Sonnenbrillen, wie am Flughafen werden Körper und Handtasche gescannt. Dann ist der Weg durch die selbst am Nebeneingang riesigen Türen ins Kapitol frei. Die Augen müssen sich erst an das gedämpfte Licht der prunkvollen Deckenleuchter gewöhnen. Fresken und Fliesen, Wandmalereien, Klimaanlagen-gekühlte Luft. Jeder Schritt hallt in den langen Gängen. Eine Gruppe in schwarzen Anzügen geht zielstrebig um das „Authorized Personnel Only“-Schild herum zu den goldenen Aufzügen. Das Ziel ist die Senate Press Gallery im dritten Stock des Nordflügels: ein enger, holzvertäfelter Raum, aus dem Journalisten aus aller Welt berichten.
„Das Kapitol ist das Symbol für die amerikanische Demokratie“, sagt Donald Ritchie, Historiker des Senates. Es ist sowohl der Sitz des Kongresses der Vereinigten Staaten als auch Museum und historisches Artefakt, das jedes Jahr über drei Millionen Besucher anzieht. Hier tagen das Repräsentantenhaus und der Senat und es finden sich ebenso viele Kunstwerke wie Anekdoten der amerikanischen Geschichte. Der Bau wurde bereits 1793 nach den Entwürfen des britisch-amerikanischen Architekten William Thornton begonnen und aufgrund diverser Erweiterungen gleich mehrmals beendet. Am 17. November 1800 kam der Kongress auf dem Hügel über dem Potomac River zum ersten Mal zusammen. Heute beherbergt allein das Kapitol mehr als 540 Räume, dazu kommen mehrere Nebengebäude. Es gibt Friseurläden, Kosmetikstudios, Postschalter, Banken und zahlreiche Restaurants und Cafés. „Deshalb wird der Capitol Hill in Washington als kleine Stadt bezeichnet“, sagt Ritchie. Wer hier arbeitet, lebt zumindest unter der Woche auch hier.
Silvesterabend im Kapitol
Im Alltag werden so Kleinigkeiten wichtig, wie die Snackbar von Sonita im Senatsflügel. Es riecht nach frisch aufgebrühtem Espresso, Abgeordnete wie Journalisten gehen ein und aus. Die einen kommen jeden Morgen und kaufen gefrorenen Joghurt, andere, wie der demokratische Mehrheitsführer Harry Reid, meist nur Kaffee. Und Sonita lächelt immer, sagt, sie wolle eine Art „zu Hause“ bieten. Das klingt nach einem Satz aus einer Seifenoper, passt aber erstaunlich gut.
„Ich denke, diese familiäre Atmosphäre in einem politischen Machtzentrum ist einzigartig“, sagt Laura Eckart, Direktorin der Senate Press Gallery. „Man kennt die Sicherheitsbeamten, ist mit den Angestellten genauso wie mit den Reportern per du. Das Kapitol schafft eine Gemeinschaft.“ Eckart sitzt im eleganten grauen Hosenanzug an ihrem Schreibtisch, seit 1997 leitet sie die Senate Press Gallery im dritten Stock. Ihr Tag beginnt normalerweise um neun Uhr und endet um sechs. Aber: „Wir sind natürlich zusätzlich hier, wenn der Senat da ist, auch wenn es Weihnachten oder Neujahr ist“, sagt Eckart. Vergangenes Jahr am Silvesterabend zum Beispiel. Auch damals drohte der amerikanischen Regierung das Geld auszugehen und damit die zeitweise Schließung. Im Senat wurde endlos über einen neuen Haushaltsplan verhandelt, mehr als 100 Journalisten verfolgten die Debatten. „Irgendwann knallten Champagnerkorken, dann kam US-Vizepräsident Joe Biden in unser Büro“, sagt Eckart. „Da hatte man das Gefühl, bei einer Art historischem Moment dabei zu sein.“
Ihre Kollegen nicken. Im Hintergrund klappern Tasten, Telefone klingeln, in der Ecke flimmern Nachrichtenkanäle. Hierhin wird seit 1986 live übertragen, was drinnen im Senat passiert – auch wenn der Saal nur zwei Meter entfernt hinter einer Holztür liegt. Im Moment ist das blaue Plenum verwaist, nur auf den Emporen sitzen vereinzelt flüsternde Besucher. Im Halbkreis stehen die Holztische um das Podium. Jeder Staat der USA entsendet hierhin zwei Abgeordnete, die zu den Sitzungen auch im Handyzeitalter noch über ein System aus Glocken- und Lampenzeichen aus den Büros zusammengerufen werden. Plötzlich wird es draußen im Pressebereich lauter. Allgemeiner Aufbruch. Der Grund: Präsident Barack Obama wird gegen Mittag im Kapitol erwartet. Eine Seltenheit, sagt Eckart.
"Mr. President, Mr. President"
Im Pulk laufen die Journalisten über eine breite Treppe hinunter in den zweiten Stock. Aufgeregt wird in Headsets gesprochen. Direkt unter der Rotunde hindurch geht es Richtung Südflügel, zum Sitz des Repräsentantenhauses. Weder die berühmte Kuppel mit dem Gemälde von Constantino Brumidi noch die Statuen in der National Statuary Hall werden eines Blickes gewürdigt. Die Abbilder berühmter Amerikaner (von George Washington bis Rosa Parks) in der Halle wechseln zwar je nach Geschmack der Mehrheitspartei im Senatskomitee, sie gehören dennoch zum Alltag im Kapitol. Dass der Präsident kommt, weniger. Auf dem Gang zum Mansfield Room, in dem Obama heute mit Abgeordneten zu Mittag essen wird, stehen bereits Polizeibeamte und Kameramänner Spalier. Ein samtenes rotes Absperrband weist die Presse in die Schranken. Um 12.30 Uhr plötzliche Stille: „He is in.“ Drei Worte erzeugen greifbare Spannung. Dann Schritte und ein gleißendes Blitzlichtgewitter. „Mr. President, Mr. President.“ Drängeln, Schubsen, Aufregung. Ein schnelles „Hi guys“, ein Winken, und schon verschwindet Barack Obama zum Lunch.
„Abgesehen von seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation ist der Präsident jedes Jahr nur ein paar Mal im Haus“, sagt Laura Eckart. Beim Kaffee oder zum Lunch zufällig neben Obama zu sitzen, sei also unwahrscheinlich. Dennoch gilt in Washington der Capitol Hill nicht nur als Machtzentrum, sondern auch als Schlemmermeile der Nation. Mehr als ein Dutzend Restaurants, Bars und Cafés stehen zur Auswahl. „Jedes hat seine Spezialitäten“, sagt Eckart. Zu Sonitas Snackbar geht man, um Süßigkeiten zu kaufen, zum Capitol Market wegen der Salatbar, und den besten Kaffee gibt es an der Theke von Cups & Company im Russel Building. Spannend ist überall weniger das Speiseangebot (von Capitol Cup Salat bis zum Capitol Cookie) als das, was zwischen Sandwich und Dessert besprochen wird. Oder davor.
Denn im Vergleich beispielsweise zum Weißen Haus ist es auf dem Capitol Hill einfacher für Journalisten, mit Politikern in Kontakt zu kommen. Dienstag ist dafür der beste Tag. Die meisten Abgeordneten sind vom Wochenende zurück in ihren Büros und oft herrscht ab neun Uhr morgens im zweiten Stock eine Art Marktatmosphäre. Gehandelt werden Ideen, Zitate und Interviews, bevorzugt an den sogenannten Speak Outs, den Stellen, an denen Senatoren und Repräsentanten abgefangen werden können.
Unter dem Capitol Hill
Einer dieser Punkte ist vor dem Lyndon B. Johnson Raum im Senatsflügel. Zwischen 12.30 Uhr und 14.15 Uhr essen hier die Republikaner zu Mittag und auf dem Weg vom Aufzug an den gedeckten Tisch wird Journalisten gerne die ein oder andere Frage beantwortet. Parallel dazu speisen die demokratischen Abgeordneten als momentane Regierungspartei im Mansfield Room im Südflügel des Kapitols. Im Korridor davor befindet sich vor der Ohio Clock, einer antiken hölzernen Standuhr, ein „Speak Out“. Auch hier finden sich regelmäßig um die Mittagszeit Journalisten mit Mikrofonen oder Schreibblöcken ein. Durch die Fenster scheint die Sonne herein, der Blick reicht auf der Westseite die Mall hinunter bis fast zum Lincoln Memorial. Stehen bleibt in dem Gang, der bis zum Sitzungssaal des Repräsentantenhauses führt, kaum jemand. Nach dem Essen eilen die Abgeordneten zurück in ihre Büros. Die liegen aus Platzmangel heute meist in den Nebengebäuden. Wer im Kapitol arbeitet, ist somit viel unterwegs. Und deshalb gibt es Leute wie George Calloway.
Seit seinem Highschool-Abschluss vor zwei Jahren ist der junge Amerikaner im Haus angestellt. Sein Job: Schaffner. Bereits 1909 fuhr die erste Bahn, mittlerweile verbinden drei unterirdische Strecken das Kapitol mit seinen wichtigsten Nebengebäuden. „Fast alle Abgeordneten nutzen diese Züge“, sagt Calloway. Die Haltestellen sind durch ein Netz aus Tunneln miteinander verbunden. Zu Stoßzeiten rumpeln rot-blaue und silberne Wagen pausenlos hin und her. Das Ganze erinnert an Kinderattraktionen in Freizeitparks. Ein Hauch von Fahrtwind weht durch gepflegte Frisuren, Krawatten flattern leicht. Nach wenigen Sekunden ist der Spaß vorbei.
Bis zum 11. September 2001 war die „Congressional Subway“ für die Öffentlichkeit zugänglich, nun nutzen sie nur noch Kongressmitglieder, Reporter und Angestellte, um sich auf dem über 23 Hektar großen Areal zu bewegen. Denn der gesamte Kapitolkomplex umfasst neben dem Hauptgebäude sechs weitere Büroeinheiten, die Library of Congress, die Gebäude des Obersten Gerichtshofes der USA (Supreme Court) und ein Elektrizitätswerk. Errichtet wurden die meisten Bauwerke im 19. und 20. Jahrhundert. So können auf Senatsseite nicht nur das älteste Bürogebäude, das Russel Building, sondern auch das Dirksen- und das Hart Building mit Zügen erreicht werden. Parallel dazu fahren vom Südflügel Bahnen zum Rayburn House, einem der Bürogebäude des Repräsentantenhauses. Und dort kann es vorkommen, dass Abgeordnete mit ganz neuem Look zurück zum Kapitol fahren. Der Grund: Giuseppe „Joe“ Quattrone.
Friseur der Abgeordneten
In Zimmer B 323 riecht es nach Haarspray. Ein Föhn brummt. Von der Wand lächelt Hillary Clinton neben Dutzenden anderer Fotografien von Kongressmitgliedern. Alle mit Autogramm versehen und ordentlich gerahmt. Gegenüber reihen sich hölzerne Kabinen wie in einem Westernlokal. Die erste Tür steht weit offen, ein weißes Schild macht klar, wer hier arbeitet: „Joe Q“. Unzählige Politiker in Washington saßen bei dem Friseur schon auf dem Stuhl. Der kauzige Italiener mit den schlohweißen Haaren und den goldenen Ketten um den Hals begrüßt jeden Gast mit festem Händedruck. Interviews will er allerdings im Moment keine geben, sagt Quattrone und schüttelt den Frisierumhang aus. Wegen deutlich strikterer Sicherheitsvorschriften rund ums Kapitol sind seine Kundenzahlen seit den Terroranschlägen 2001 zurückgegangen. Das Interesse der amerikanischen Medien hingegen stieg. Quattrone, der seinen Laden auf dem Capitol Hill seit den 70er Jahren betreibt, wurde zu einem Stück Geschichte erklärt. Der nächste Kunde kommt herein, Quattrone zückt die Schere, Zeit zu gehen.
Noch einmal durch die Sicherheitsschleuse. Zurück im Kapitol klicken schon wieder Kameras. Allerdings nicht um den Präsidenten abzulichten. Eine der letzten Touristengruppen des Tages posiert mit erhobenen Daumen zwischen zwei Marmorstatuen, dann verlassen sie das Besucherzentrum durch das Hauptportal. Draußen ist die Luft dampfig-schwül, erschlagend. Die Sonne schiebt sich langsam hinter die Statue of Freedom auf der Spitze der Kuppel. Ein paar Demonstranten gegen „Obamacare“, die Gesundheitsreform des Präsidenten, rollen ihre Fahnen zusammen und machen sich an den Sicherheitsbeamten vorbei auf den Nachhauseweg. Sirenen heulen auf der Constitution Avenue. Ein ganz normaler Abend auf dem Capitol Hill.
Die Autorin Susanne Popp berichtete einen Monat lang mit unserem Korrespondenten Jens Schmitz aus Washington DC. In dieser Zeit besuchte sie mehrmals das Kapitol und den Hill.