Da ist zum Beispiel Schweden. Das skandinavische Land pflegt ein nationales Biobank-Programm, in dem von beinahe allen Schweden – meist wenn sie volljährig werden, manchmal auch schon im Kleinkindesalter – Blut und Genmaterial hinterlegt werden. Forscher können die Materialien aus dieser schwedischen Biobank für große, bevölkerungsbezogene Studien nutzen. Und – per Gesetz ist das geregelt – von jedem Schweden kommen dort zu Blut und DNA im Laufe der Jahre medizinische Daten hinzu. „Der schwedische Staat sammelt so Gesundheitsdaten von seiner Bevölkerung“, sagt Professor Roland Jahns über die Idee hinter dem nationalen Biobank-Programm.
Die Niederlande haben ein ähnliches System mit sieben großen Biobanken, verteilt über das kleine Land. Dort müssen – oder dürfen – die Bürger allerdings ausdrücklich zustimmen, dass ihr Blut und ihre DNA-Proben zu Forschungszwecken genutzt werden. Die Einwilligungsrate der Niederländer, sagt der Mediziner der Würzburger Universitätsklinik, beträgt rund 90 Prozent. „Das ist normal dort, die Niederländer wissen dank der Aufklärungskampagnen, wozu Biobanken nützlich sind. Und auch in Schweden wissen über 80 Prozent der Bürger, was eine Biomaterialbank ist.“
Nämlich das: eine großangelegte Sammlung von Blut, anderen Körperflüssigkeiten und Gewebeproben samt den dazugehörigen verschlüsselten Gesundheitsdaten oder Untersuchungsbefunden der Spender. Die Proben werden portioniert, mit Zahlencodes verschlüsselt registriert und dann – Computer-gesteuert von Robotern – in großen Tiefkühltanks eingelagert. Auf Jahre hinaus soll das Biomaterial bei minus 140 Grad Celsius sicher aufbewahrt sein – und auch künftigen Forschergenerationen zur Verfügung stehen.
In Deutschland hatte man sich lange zurückgehalten mit größeren zentralen Biomaterialbanken. Fast jede Fachabteilung einer Universitätsklinik erhebt zwar spezielle klinische Verlaufsdaten. Und Abteilungen wie Chirurgie, Neurologie, Dermatologie oder Psychiatrie haben meist auf ihre eigenen Interessen zugeschnittene Bioproben-Sammlungen. Aber ein landesweit abgestimmtes Biobank-Programm wie in Holland oder Schweden?
Gab es nicht – bislang. Vor einem Jahr startete die Bundesregierung dann eine nationale Initiative: Künftig werden krankheitsbezogene Biobanken an fünf Standorten in Deutschland zentralisiert und dann miteinander vernetzt. Die auserkorenen Unikliniken in Aachen, Berlin, Heidelberg, Kiel und Würzburg sollen viele Bioproben qualitätskontrolliert sammeln und für Forschungszwecke bereitstellen. Viele, das heißt: so viele, dass die Wissenschaftler ganz neue, am Patienten orientierte Fragen stellen und durch statistisch ausreichende Datenmengen dann auch Antworten geben können.
„Bekannte und noch unbekannte Erkrankungen in einem ganz frühen Stadium erkennen zu können, das ist die Idee“, sagt Professor Roland Jahns, der Leiter der Interdisziplinären Biomaterial- und Datenbank der Würzburger Universitätsklinik (IBDW). Und er nennt ein wichtiges Stichwort: „Biomarker.“ Durch solche charakteristischen biologischen Merkmale wollen die Wissenschaftler Krankheitsanzeichen noch vor dem Ausbruch entdecken – oder Rückschlüsse auf Krankheitsverläufe ziehen. So zeigt der Anstieg eines bestimmten Peptids im Blut beispielsweise schon eine Herzschwäche an, obwohl der Betroffene eigentlich noch gar nichts davon bemerkt, also keine Beschwerden hat. „Ab bestimmten Werten weiß man, dass der Patient in zwei bis drei Jahren die Symptome entwickeln wird“, sagt Jahns.
Früherkennung ist die eine Idee der neuen systematischen Proben- und Datensammlung. Die andere: neue Therapie-Ansätze zu finden. Entdecken die Forscher ein bestimmtes Molekül und sehen, dass es mit einer bestimmten Erkrankung in Zusammenhang steht – „dann kann man etwas entwickeln, das dieses Molekül in den Zellen entweder blockiert oder aber aktiviert, je nachdem welche Rolle es im Krankheitsprozess spielt“, sagt Jahns.
Damit das tiefgekühlte Biomaterial für die medizinische Forschung einen Nutzwert hat, muss es mit Daten zu Gesundheits- oder Krankheitsverlauf des Spenders verknüpft werden. Und idealerweise auch mit verschiedenen Umweltfaktoren: Raucht der Spender? Hat er Übergewicht? Wie ernährt er sich?
Bislang sind die Datenbanken und Biomaterial-Sammlungen meist auf bestimmte Krankheitsbilder ausgerichtet. Doch um die Mechanismen der Krankheitsentstehung zu verstehen – und vor allem die Ursachen –, benötigen die Forscher Daten von möglichst vielen Menschen. „Wir möchten vor allem möglichst lückenlose und möglichst sauber dokumentierte Verläufe“, sagt Roland Jahns.
In seiner Weiterbildung zum Internisten beschäftigte sich der Mediziner über viele Jahre mit Lymphomen. Meist werden den Patienten dabei die Lymphknoten nur zur Gewebeuntersuchung entfernt. Das neue Konzept der Würzburger Biobank sieht vor, „dass man zum Zeitpunkt der ersten Diagnose Lymphknoten entfernt, zeitgleich Blut abnimmt und Genmaterial gewinnt“. Die Bioproben und zugehörigen Patientendaten werden mit Zahlenkombinationen codiert, das heißt „pseudonymisiert“ erfasst. „Wer tatsächlich dahinter steckt, das weiß nur ein ganz kleiner Kreis von Datentreuhändern“, sagt Jahns.
Unter der Codenummer aber können Verlaufsdaten gesammelt werden: Patient X bekommt diese oder jene Therapie, erkrankt nach drei Jahren vielleicht wieder. Wenn er dann erneut in die Klinik kommt, entnehmen die Ärzte wieder Gewebe, Blut, DNA. Krebspatient Y bekommt dieselbe Therapie, hat keinen Rückfall, wird aber irgendwann vielleicht in der Herzschwäche-Ambulanz oder in der Rheuma-Ambulanz der Uniklinik behandelt. Wieder könnten – liegt die letzte Spende mindestens zwölf Monate zurück – Bioproben gekommen werden. „So versuchen wir, lückenlose klinische Verläufe über die Jahre zu bekommen“, sagt Jahns. Und irgendwann könnte daraus die Erkenntnis erwachsen: Deshalb entsteht eine bestimmte Krankheit, deshalb erleidet Patient X einen Rückfall, aber Patient Y eben nicht.
Die Interdisziplinäre Biomaterial- und Datenbank Würzburg wird in den nächsten Jahren Daten aus 14 Klinik-Biobanken zusammen. Auf dem Gelände der Uniklinik entsteht derzeit ein riesiges Tiefkühllager, in dem künftig die für Forschungszwecke gespendeten Körperflüssigkeiten robotergesteuert konserviert werden. Drei Kryo-Container werden dort stehen, jeder so groß wie eine Doppelgarage und mit Platz für bis zu 550 000 Proben. Die Kosten: 1,5 Millionen Euro pro Container.
Möglichst viele Proben sollen in den nächsten Jahren darin zusammenkommen. Wann immer Ärzte der Uniklinik von einem Patienten Blut, Urin oder Gewebe zur Routineuntersuchung brauchen, werden sie ihn fragen, ob sie einen Teil davon für wissenschaftliche Zwecke einlagern dürfen. „Wir wollen keine zusätzlichen Eingriffe zur Gewinnung von Biomaterialien für die medizinische Forschung“, sagt Professor Christoph Reiners, der Ärztliche Direktor des Uniklinikums. Auch der Erhebung und Analyse der zugehörigen medizinischen Daten muss jeder einzelne Patienten zustimmen. Doch nur mit diesen Daten können die Forscher „aus den Spenden lernen“. Die Einwilligung übrigens kann ein Spender jederzeit widerrufen. Die Bioproben werden dann entsorgt, die zugehörigen Daten gelöscht.
Was passiert mit dem eingelagerten Blut und Genmaterial, mit Gewebe und Urin? „Wir können dem Spender noch gar nicht genau sagen, was damit passieren wird“, sagt der Leiter der Würzburger Biobank. „Auch wir Mediziner wissen ja noch gar nicht, welche medizinisch-wissenschaftlichen Fragestellungen einmal auf uns zukommen. Das ist eine sehr offene Spende. Weder der Patient noch wir selber können abschätzen, was an den Bioproben in fünf Jahren vielleicht untersucht wird.“ Jedes Forschungsvorhaben, das Biomaterial oder Daten der IBDW verwenden möchte, wird deshalb zuvor durch die zuständige Ethikkommission auf Herz und Nieren geprüft. Erst wenn die Kommission als unabhängiger „Anwalt der Spender“ das Okay gibt, dürfen Bioproben und Daten tatsächlich von den Wissenschaftlern genutzt werden: Vielleicht werden genetische Erkrankungen damit erforscht, die heute noch gar nicht bekannt sind. Vielleicht entdecken die Mediziner damit Zusammenhänge zwischen Umweltfaktoren und Krankheiten, an die heute noch niemand denkt.
Von jedem Patienten, der in die Uniklinik kommt, irgendwann einmal Biomaterial in der IBDW zu haben – das ist das langfristige Ziel. Die Proben der normalen Routine-Diagnostik werden bislang übrigens für Nachbestimmungen zwei Tage vorgehalten – dann wird das Serum vernichtet. Warum künftig nicht aufheben für wissenschaftliche Zwecke? Jahns setzt auf die Aufgeschlossenheit und Spendenbereitschaft möglichst vieler Patienten. Und er hofft, dass in Deutschland die Akzeptanz von wissenschaftlichen Biobanken in der Öffentlichkeit weit größer ist und nach dem Vorbild Schweden oder Holland noch viel weiter steigen wird, als mancher Bioethiker dies heute glauben mag.