Früher oder später musste es passieren. Sandro Weiß, 21, beschäftigte sich gerade mit der Umwelt-
Anti-Atomkraftbewegung in seiner Heimat. Da stieß der Berufsoberschüler aus Schwandorf in den Recherchen für seine Seminararbeit zwangsläufig auf das, was vor 30 Jahren eine ganze Region gespalten hatte. Das war der Plan, in der mittleren Oberpfalz eine Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) für abgebrannte Brennstäbe aus deutschen Kernreaktoren zu bauen.
Die Entscheidung der Deutschen Gesellschaft zur Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen (DWK), verkündet am 4. Februar 1985, mobilisierte die Menschen in ungeahnter Weise. Keine zwei Wochen später versammelten sich 35 000 Bürger bei eisigen Temperaturen auf dem Marktplatz von Schwandorf, um friedlich gegen die WAA zu protestieren. Es war die erste von ungezählten Großdemonstrationen, Waldspaziergängen, Sitzblockaden am dunkelgrünen und mit Stacheldraht gekrönten stählernen, drei Meter hohen Bauzaun, der die Demonstranten von dem WAA-Gelände abhalten sollte. Menschen aus ganz Deutschland und dem benachbarten Ausland reisten zum Protest in die Oberpfalz.
Sandro Weiß und seine Mitschüler haben jüngst das Gelände besucht, das bislang manche nur deshalb gekannt haben, weil es dort eine große Kartbahn gibt. Direkt gegenüber ist ein weiteres, unter jungen Leuten beliebtes Ziel: der Musik-Park, eine Diskothek. Das Industriegebiet von Wackersdorf ist großzügig gestaltet. Die Firmen, die sich hier niedergelassen haben – oft sind es Zulieferbetriebe aus der Autobranche –, können sich ausbreiten. BMW ist präsent. Auf einem anderen Gelände blitzen die grünen Arme von Spezialkränen in den Himmel, die die Firma Sennebogen in alle Kontinente exportiert.
Fast nichts erinnert mehr daran, dass sich an diesem Platz vor drei Jahrzehnten Demonstranten mit der Polizei so heftige Auseinandersetzungen geliefert haben, dass von „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“ gesprochen wurde. Die Polizisten, aus der ganzen Republik hierher beordert, räumten und zerstörten aufgebaute Hüttendörfer. Sie setzten nicht nur Wasserwerfer, sondern erstmals auch CS-Gas ein.
Einsatz im Taxöldener Forst
Einer, der damals Tage, Wochen, Monate im Taxöldener Forst darauf achtete, dass kein Demonstrant den mächtigen Stahl-Zaun überwand, war Michael Hinrichsen, heute Vize-Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft. Aus Amberg rückte seine Einheit regelmäßig an – mit der Zeit kannten sich die Beamten auf der einen und die Protestierer auf der anderen Seite. „Und doch ist eine richtige Kommunikation nie zustande gekommen“, sagt Hinrichsen. Daraus habe die Polizei ihre Lehren gezogen.
Die Dauereinsätze waren für die Beamten noch aus einem anderen Grund schwierig. Längst nicht alle Uniformierten waren von der Anlage, die in der strukturschwachen Oberpfalz entstehen sollte, überzeugt. Sie schützten etwas und fragten sich doch nach dem „Warum?“.
Wer einen Streit vom Zaun brechen wollte, musste in dieser Zeit nur die drei Buchstaben WAA in den Mund nehmen. Der Riss zwischen Befürwortern und Gegnern verlief quer durch die Gesellschaft, er entzweite Familien. Wenn Thomas Falter, seit dreieinhalb Jahren Bürgermeister von Wackersdorf, zu Jubilaren kommt, agiert er beim WAA-Thema „ziemlich vorsichtig“. Falter möchte an einem solchen Festtag mit einer Meinungsäußerung nicht dazu beitragen, dass Missstimmung aufkommt. Im Laufe des Besuchs aber lenken andere Gäste früher oder später das Gespräch automatisch auf dieses Milliarden-Projekt, das 1989 von der Energiewirtschaft eingestellt wurde.
Die WAA ist lange schon Vergangenheit, aber nach wie vor allgegenwärtig – nicht nur in der Oberpfalz. Das hat Falter erst kürzlich wieder erfahren, als er mit seiner Familie in Österreich im Skiurlaub war. Woher er komme, wurde er gefragt. Aus Wackersdorf, lautete die Antwort. „Ist da nicht die Atomfabrik?“, kam prompt die Reaktion.
Thomas Falter will auch Touristen für seinen Ort begeistern. Wackersdorf gehört zu den acht Städten und Gemeinden, die das Oberpfälzer Seenland besser vermarkten wollen. Welche Kommune den Menschen etwas sagt, war nach einer telefonischen Umfrage schnell klar: Die Gemeinde Wackersdorf schlug die Große Kreisstadt Schwandorf um Längen. Müsste dann nicht die WAA-Vergangenheit des Ortes stärker genutzt werden, um Touristen zu locken? „Wir wissen es nicht so recht, was wir mit den Erkenntnissen anfangen sollen“, gibt Falter zu.
Der Bürgermeister bekommt ab und zu Besuch von Gert Wölfel. Wölfel, 75, ist nicht irgendein Bürger. Vor 24 Jahren wurde dem früheren Steuerberater und Wirtschaftsprüfer die Ehrenbürgerschaft verliehen, weil er sich erfolgreich darum bemüht hatte, dass sich Industriebetriebe auf dem ehemaligen WAA-Gelände ansiedelten. Davor hat er etwas anderes getan: Wölfel war ab 1987 im Vorstand der DWK und als Geschäftsführer in Wackersdorf eingesetzt. „Mein Auftrag war es, bis 1994 die Anlage zum Laufen zu bringen.“ In der Gemeinde hat er inzwischen seine Heimat gefunden. „Anfeindungen oder Pöbeleien gegen mich gibt es hier nicht.“
Zum einen, weil er sich nach dem gescheiterten Projekt mit Nachdruck um eine andere Lösung gekümmert hat. „Ich habe mich hier nicht wie die Sau vom Trog gemacht, als es nichts mehr zu holen gab. Und das haben viele vor Ort respektiert.“ Und zum anderen, weil alle politischen Kräfte in Wackersdorf sich seinerzeit für die Wiederaufbereitungsanlage eingesetzt hatten. Das Risiko schien dem Gemeinderat beherrschbar, die wirtschaftliche Not vor Ort war groß. Nach dem Ende der Braunkohle-Förderung 1982 lag die Arbeitslosenquote in dem „Armenhaus Bayerns“ bei über 20 Prozent. Die WAA verhieß Arbeitsplätze.
„Wie eine Fahrradspeichenfabrik“
Außerdem waren die Wackersdorfer an große Veränderungen gewöhnt. Wegen des Braunkohle-Vorkommens wurde die alte Ortschaft 1952 etwa einen Kilometer in Richtung Westen komplett umgesiedelt, inklusive Kirche und Friedhof. Entschädigt wurde die Bevölkerung mit großzügigen Bauplätzen. Fast jedes Grundstück hatte an die 1000 Quadratmeter. Zudem bedeutete die Kohle eine Jobgarantie.
Was aber nützt ein schmuckes Heim, wenn das „braune Gold“ zur Neige gegangen ist und Arbeitslosigkeit droht? Der Ausweg hieß für die Staatsregierung WAA in Wackersdorf. Die DWK favorisierte den bayerischen Standort vor allem wegen der „politischen Stabilität“ im Freistaat. Das Ausmaß des Widerstandes war damals nicht erkennbar. Noch heute schüttelt der frühere Atommanager Wölfel den Kopf, wenn er sich an die Aussage des damaligen bayerischen CSU-Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß erinnert, die Wiederaufbereitungsanlage sei „nicht gefährlicher als eine Fahrradspeichenfabrik“. Diese Art der Beschwichtigungs-Rhetorik verfehlte ihr Ziel.
Zu Strauß erbittertsten Gegenspielern gehörte Hans Schuierer (SPD), der zwischen 1970 und 1996 Landrat in Schwandorf war. Ursprünglich war Schuierer Anhänger des Projekts. Seine Zweifel an möglichen Gesundheitsgefahren aber wuchsen. Der Landrat lehnte es schließlich ab, bau- und wasserrechtliche Bescheide zur Genehmigung der WAA zu unterschreiben. Mit der „Lex Schuierer“ umging die Staatsregierung 1985 den widerspenstigen Behördenchef. Seither kann die Aufsichtsbehörde anstelle der eigentlich zuständigen angewiesenen Behörde handeln. Dieses „Selbsteintrittsrecht“ ist seitdem nicht abgeschafft worden.
Schuierer wurde – erfolglos – mit einem vier Jahre dauernden Disziplinarverfahren überzogen. „Die wollten mich psychisch fertigmachen“, sagt er. Die WAA treibt ihn bis heute um. Vor knapp zwei Wochen hat er an seinem 84. Geburtstag lieber vor Sandro Weiß' Klasse geschildert, was er erlebt hat, anstatt Glückwünsche am Telefon entgegenzunehmen. „Wackersdorf ist ein Lehrbeispiel dafür, was in einer Demokratie und in einem Rechtsstaat nie passieren darf“, sagt er. So begründet er seinen ganz persönlichen „Kampf gegen das Vergessen“.
Wie der Kampf um die Wiederaufbereitungsanlage begann und welche Folgen er hatte
September 1980: Unter der Führung der SPD/FDP-Koalition in Bonn beschließen Bund und Länder eine zügige Verwirklichung einer Wiederaufarbeitungsanlage (WAA). Februar 1982: Die Deutsche Gesellschaft zur Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen (DWK) beantragt bei der Regierung der Oberpfalz ein Raumordnungsverfahren für die WAA. Standorte in Rheinland-Pfalz (Hambuch, Illerich), Hessen (Frankenberg-Wangershausen) und Niedersachsen (Gorleben) hatten sich zerschlagen. Februar 1985: Der DWK entscheidet sich für Wackersdorf und gegen den alternativen Standort Dragahn im niedersächsischen Kreis Lüchow-Dannenberg. Es kommt zu einer ersten Großdemonstration in Schwandorf. September 1985: Bayerns Umweltministerium erteilt die erste atomrechtliche Teilerrichtungsgenehmigung. Dezember 1985: Die DWK beginnt mit der Rodung des etwa 130 Hektar großen Forstgebietes und errichtet einen massiven, 4,8 Kilometer langen Sicherungszaun. April 1987: Das Münchner Verwaltungsgericht hebt die erste Teilerrichtungsgenehmigung (TEG) wieder auf. Die Arbeiten an der WAA sind aber nicht betroffen, da wegen erteilter Einzelbaugenehmigungen weitergebaut werden kann. August 1988: Beginn des Erörterungstermins zur zweiten TEG mit 881 000 Einwendungen von WAA-Gegnern – 420 000 davon aus Österreich. April 1989: Pläne des Energiekonzerns Veba (heute E.on) werden bekannt, mit der französischen Gesellschaft Cogema eine Firma zum Betrieb der WAA im französischen La Hague (Normandie) zu gründen. Im Vergleich zur Oberpfalz sollen die Kosten um ein Drittel geringer sein. Mai 1989: Die Bauarbeiten werden eingestellt. Bis zum Stopp wurden nach DWK-Angaben rund 2,6 Milliarden Mark ausgegeben. In anderen Quellen wird eine deutlich höhere Summe genannt: zehn Milliarden Mark. Zuletzt waren knapp 2000 Techniker und Arbeiter mit der WAA beschäftigt. Heute: Die Gemeinde Wackersdorf ist schuldenfrei und gehört zu den reichsten Kommunen in Bayern. Grundlage dafür waren nach dem Aus der WAA Ausgleichszahlungen von Bund, Land und der Energiewirtschaft in Höhe von 1,5 Milliarden Mark. Wackersdorf hat 5100 Einwohner und verfügt auch durch das Industriegebiet („Innovationspark“) über insgesamt 5600 Arbeitsplätze. In dem Ort im Kreis Schwandorf gibt es eine Krippe, einen Kindergarten, Grund-, Mittel- und eine Wirtschaftsschule. Text: IOA, AZ