Walter Schill bittet ins Schlafzimmer. „Kommen Sie mit, ich will Ihnen noch was zeigen!“ Er zieht die Bettdecke weg und springt wie ein junger Hüpfer auf die Federkern-Matratze. Die wackelt zwar wie Pudding, doch hartnäckig bietet er ihr die Stirn. Er winkelt die Beine an und stößt sie schnell kräftig senkrecht nach oben. Walter Schill steht kopf. Mehr als eine Minute lang. Als akrobatische Zugabe zeigt er noch ein paar Scherenschläge mit den Beinen. Dann endet, was er vor fast 60 Jahren Jahren angefangen hat: die alltägliche Morgengymnastik, Kopfstand inklusive. „Seit meinem 30. Lebensjahr mache ich das jeden Morgen“, versichert der 88-Jährige, „und glauben Sie mir, wenn ich das nicht mache, wird der Tag nichts.“
Der Kopfstand ist Teil des gymnastischen Trainingsprogrammes eines vor Fitness strotzenden Mannes, der trotz seines recht fortgeschrittenen Lebens – man staune – noch bei Schwimmwettkämpfen antritt. Jüngst räumte er bei den bayerischen Langstreckenmeisterschaften in Würzburg den Titel über 200 Meter Rücken ab. Er konnte sich dabei allerdings Zeit lassen, viel Zeit sogar, denn in Bayern muss er in seiner Altersklasse keinen Konkurrenten mehr fürchten. Wenn Walter Schill schwimmt, dann ist er in aller Regel immer der Erste und immer auch der Letzte. Einzig der 91-jährige Karl Baierlein und der ebenfalls aus Nürnberg kommende, allerdings „erst“ 80-jährige Gerhard Grosser fordern ihn ab und zu heraus. Sechs Minuten und 21,34 Sekunden war der für den TV Marktheidenfeld startende Senior übrigens in Würzburg unterwegs gewesen, ehe ihm die Urkunde für den Sieg in der Altersklasse 85 überreicht wurde.
Freilich ging's früher noch etwas flotter. Vor einigen Jahren, da pflügte der in Schwäbisch Gmünd aufgewachsene und seit 1972 in Hafenlohr nahe Marktheidenfeld im Landkreis Main-Spessart beheimatete Schill noch etwas schneller durch das Element. 2004 etwa, als er bei der deutschen Meisterschaft in Landshut viermal Bronze gewann. Oder 2001, als er bei den Internationalen Masters in Bregenz der Schnellste war. Und natürlich im Jahr 1997, als er bei den Masters auf der Insel Guernsey im Ärmelkanal Dritter wurde, dafür allerdings lediglich einen Bierdeckel als Andenken bekam. An diesen Wettkampf hat er nicht nur deshalb wenig gute Erinnerungen: Weil er beim Schmetterlingschwimmen die Arme nicht zügig aus dem Wasser bekam, wurde der damals 75-Jährige ein Opfer der harten britischen Regeln und disqualifiziert. Das ärgert ihn noch heute: „Mein Gott, wie kann man zu alten Menschen nur so streng sein.“
Eine Stilikone ist Walter Schill nicht. Wie auch? Als er in Guernsey antrat, hatte er als Wettkämpfer ja gerade erst einmal drei Jahre auf dem Buckel. Es war der 26. November 1995, da debütierte er bei den unterfränkischen Titelkämpfen in Hammelburg, kraulte die 100 Meter in 1:55,15 Minuten und errang auf Anhieb den Sieg in der AK 70.
In seiner Jugend ist er zwar auch schon gerne geschwommen, doch das mehr oder weniger nur aus hygienischen Gründen, „weil es zu Hause kein Badezimmer gab und ich mich ja irgendwo waschen musste“. Erst als er 1994 bei einer Freizeit einem Boxer namens Paul Hermanns aus Schongau begegnete und dem in einem See davonschwamm, entstand die Idee, den Schwimmsport wettkampfmäßig zu betreiben. Der zehn Jahre jüngere Hermanns, zu dem der Hafenlohrer auch heute noch Kontakt hält, hatte seinen Freund dazu ermuntert.
Fortan packte ihn der Ehrgeiz, trieb ihn damals nicht nur zur Sportschule nach Unterhaching, wo er drei Schwimmlehrgänge besuchte, sondern auch zur Sporthochschule nach Köln und an die Schwimmschule des nordrhein-westfälischen Verbandes, wo er von einem „Schwimm-Professor“ unterrichtet wurde. „Das war großartig“, sagt Walter Schill.
Der Ehrgeiz beseelt den Mann, der 25-mal das Deutsche und fast ebenso oft das Bayerische Sportabzeichen abgelegt hat, indes auch noch mit 88. Weil er wegen des Umbaus des Marktheidenfelder Schwimmbades nicht vor der Haustür trainieren kann, fährt er seit einem Jahr jede Woche mit dem Bus nach Würzburg und Lohr und schwimmt dort seine 1000 Trainingsmeter. Außerdem besucht er beim TV Marktheidenfeld auch noch regelmäßig den Kraftraum.
Dass Schwimmen der Gesundheit dienlich ist, daran lässt Walter Schill keinen Zweifel. Nur die Beine bereiten inzwischen etwas Sorgen. „Schwimmen geht besser als Laufen“, scherzt er, „wenn ich im Becken bin, tut aber nichts mehr weh.“
Trotz alledem ist es notwendig, dass Walter Schill seine körperliche Fitness schwarz auf weiß nachweist. So muss er bei Wettkämpfen eine ärztliche Erlaubnis vorlegen. „Der Patient ist ohne Einschränkungen sport- und wettkampftauglich“, steht auf dem Zettel, den er bei sich führt und den einer unterzeichnet hat, der vom Fach ist: Roland Matthes. Der vierfache Olympiasieger im Rückenschwimmen ist in Marktheidenfeld als Orthopäde ansässig und Schills Anlaufstelle. Und außerdem hat Walter Schill auch immer ein Attest seines Hausarztes dabei, das ihm chronische Bronchitis bescheinigt. Auf dem Beipackzettel der vorordneten Arznei hat er nämlich erfahren, dass das Medikament als Dopingmittel gelten könnte. Und diesem Verdacht will sich der 88-Jährige, der vier Sprachen spricht und u. a. als Übersetzer fachspezifischer Texte vom Italienischen ins Deutsche tätig war, nun wirklich nicht aussetzen. Schließlich hat ihm das lange Leben schon einige Male übel mitgespielt. Als Zeitzeuge des Krieges hat er kürzlich an einer Schule in Marktheidenfeld seine Lebensgeschichte erzählt. Im Rahmen des Geschichtsunterrichts berichtete er nicht nur davon, wie er in Russland in einen Kugelhagel geriet und am Bein verletzt wurde, sondern auch davon, dass Schwimmvereine vom NS-Regime dichtgemacht und der Kraulstil als „nichtarische“ Schwimmart verboten wurde. Hintergrund war, dass ein Dunkelhäutiger aus Hawaii das Kraulen erfunden hatte. „Leute meines Alters haben somit das Kraulschwimmen gar nicht gelernt“, erklärt Schill, der nun daran denkt, sich vom Wettkampfschwimmen zu verabschieden. Nach der bayerischen Meisterschaft Ende Mai in Bamberg könnte sogar Schluss für immer sein.
Schon seit geraumer Zeit, so beklagt Walter Schill, spüre er eine Art bedrückende Vereinsamung: „Mir fehlen die Leute von früher, ich stehe immer mehr alleine bei Wettkämpfen da.“ Doch andererseits, so versichert er, befriedige das Schwimmen seine Eitelkeit doch sehr. Schließlich ist er meist derjenige, der auf der Sympathiewelle ganz oben schwimmt und den größten Applaus bekommt. „Der Beifall tut mir gut“, betont er, „ich schlafe danach immer ganz besonders gut.“
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