Eine Grenze, das liegt so in der Natur der Sache, hat zwei Seiten. Hüben. Drüben. Oder andersrum. Je nachdem. Über 40 Jahre lang gab es zwei Deutschlands auf dieser Welt, die Bundesrepublik und die DDR – ehe vor 25 Jahren eine friedliche Revolution das getrennte Volk wieder vereinte. Hüben lag Erlabrunn, und drüben, rund 290 Kilometer entfernt, auch da lag Erlabrunn: Zwei Dörfer, ein Name, und eine Idee zum Jubiläum der Einheit: Zwei Bürgermeister, ein Gespräch.
„Na, ihr wart ja auf der glücklichen Seite“, sagt Ralf Fischer (60), der Bürgermeister von Erlabrunn im Erzgebirge in Sachsen zur Begrüßung, und sein Lächeln verschluckt fast den Zusatz, den er wie eine Pointe hinterher schiebt: „Bei uns waren die Russen.“ Fischer steht in seinem Amtszimmer im Rathaus und schüttelt kräftig die Hand von Thomas Benkert (50), seinem Amtskollegen aus dem fränkischen Erlabrunn (Lkr. Würzburg). „Bei uns waren die Amerikaner“, sagt der Gast und erinnert sich an seine Kindheit, als die GIs in ihren Panzern noch zu Übungen an den Main bei Erlabrunn kamen und Kaugummis und Kekse an die Buben aus dem Dorf verteilten. Für Benkert ist die Einheit jetzt ein halbes Leben lang her, und der Beamte, seit 17 Monaten parteiloser und ehrenamtlicher Bürgermeister in seinem Heimatort, hält die Wiedervereinigung für einen Segen.
Konsequent und intelligent sei es gewesen, wie der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl die Chance zur Einheit genutzt habe, die der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Michael Gorbatschow eröffnet habe. „Ein paar Wochen später schon wäre es wohl nicht mehr möglich gewesen“, sagt Fischer, der mit dem Ergebnis aus 25 Jahren nach der Wende „sehr zufrieden ist, auch wenn damals vieles holterdipolter ging.“
Hier, tief im Erzgebirge mit seinen ausufernden Wäldern und den engen Tälern sei der Wind des Wandels erst leise zu spüren gewesen. Aber der Ingenieur hat ihn vernommen. Ralf Fischer leitete 1989 eine mittelständische Papierfabrik mit 200 Arbeitern, aber plötzlich saß er im Ort mit am Runden Tisch. Bald zeichnete sich ab, dass er Kandidat bei den Kommunalwahlen im Mai 1990 werden würde, „die Leute suchten Männer aus der Wirtschaft“, sagt er. Demokratie war learning by doing. „Es war eine pragmatische Zeit. Man hat Leuten vertraut, die schon Verantwortung hatten“, aber politisch durch alten Seilschaften „nicht geprägt waren“.
CDU-Mann Fischer gewann die Wahl, wie auch alle weiteren seitdem. Seit 25 Jahren ist er hauptamtlicher Bürgermeister, zuletzt hatte er nicht mal einen Gegenkandidaten und ein Ergebnis wie es sonst nur aus der DDR bekannt war. Ralf Fischer schmunzelt über die Anspielung.
Erlabrunn im Erzgebirge hat harte Zeiten hinter sich. Nach dem Kriegsende entdeckte die UdSSR in der Gegend große Uranvorkommen, ein massiver Abbau begann. Deckname der Aktion damals: Wismut. Heute zeugt der Name noch davon an einem vergilbten Klingelschild am Fußballheim des SV Wismut Erlabrunn. Die Kicker spielen in der untersten Klasse, und so sieht der Platz auch aus. Verbogener Zaun, Hartplatz, Freiluftgrill.
Thomas Benkert schaut sich interessiert um, viele Jahre war er Vorsitzender des TSV Erlabrunn. Der Fußball zuhause ist kaum erfolgreicher, aber geschieht auf einem gepflegten Rasenfeld, auch das Sportheim ist im schmucken Zustand. „In Sachen Vereinsstruktur habt ihr uns einiges voraus“, sagt Ralf Fischer, „das gab es bei uns ja kaum“.
In der Bergbaublütezeit entstanden hier in Erlabrunn Ost Siedlungshäuser für die Arbeiter, „hingeschustert wurden die“, sagt Fischer. 400 Wohneinheiten hatte der Ort einst, 160 der leerstehenden Wohnungen wurden mittlerweile abgerissen, weitere sollen folgen. Der Bürgermeister will Platz schaffen für Einfamilienhäuser. 2005 war Erlabrunn pleite, es folgte der Verlust der Eigenständigkeit. Der Ort wurde eingemeindet ins benachbarte Breitenbrunn – Ralf Fischers Heimatdorf. Seit zehn Jahren ist er also auch Bürgermeister von Erlabrunn.
Das Dorf hängt am Tropf einer großen Klinik, 338 Betten, rund 600 Angestellte, Hubschrauberlandeplatz, etwa 500 Geburten pro Jahr. Der große Kreißsaal ist auch der Grund, warum Erlabrunn einen durchaus veritablen Bekanntheitsgrad in der Sportszene besitzt: Skisprung-Olympiasieger Jens Weißflog wurde hier genauso geboren wie Sven Hannawald, der 2001/02 als bislang einziger Athlet der Welt sämtliche Springen der Vierschanzentournee gewann. Aktuell ist das Aushängeschild der Region der erfolgreiche Skispringer Richard Freitag – oder „der Richie“, wie Fischer sagt. Der Bürgermeister bringt den Ort auf einen Nenner: „Erlabrunn ist das Krankenhaus.“
Tatsächlich lässt sich ein echter Dorfkern nicht finden. Unterhalb der Klinik, die sich in sanftem Bogen mächtig an den Waldsaum drückt, liegen die Häuser eher wie hingewürfelt in der Landschaft. Ohne die Klinik, glaubt der Kommunalpolitiker, wäre das Dorf längst leer. Auch so sei es schwer genug, hier an der tschechischen Grenze den Kampf mit der demografischen Entwicklung zu führen: „1990 hatte Erlabrunn noch 1272 Einwohner“, so der Bürgermeister, „heute sind es nur noch 735“. Tendenz: weiter fallend.
Es gibt ein Wanderwegenetz, einen Dorfladen, einen winzigen Bahnhof, eine gelbe Telefonzelle und ein Hotel mit Gasthaus und einer eigenen Hausbrauerei. „Ein Vier-Sterne-Haus“, sagt Fischer nicht ohne Stolz. „Einen Vier-Sterne-Wirt haben wir auch“, antwortet Thomas Benkert und lacht. So nennt der Volksmund in Erlabrunn Ewald, den Mann hinter dem Tresen in der Dorfwirtschaft im Altort. Die Entwicklung im fränkischen Erlabrunn ist gegenläufig. 1990 wohnten dort 1500 Bürger, heute sind es 1710. Tendenz: weiter steigend.
„Das ist unsere Herausforderung“, sagt Benkert, „wir sind als Wohnort aufgrund der reizvollen Landschaft und der aktiven Dorfgemeinschaft und des Vereinslebens attraktiv, aber wir müssen kämpfen, damit wir die Versorgungsinfrastruktur aus Metzger, Bäcker und Banken aufrechterhalten können.“ Fischer nickt. Er kennt diesen Kampf. Ein Bauplatz in Erlabrunn West wird aktuell mit 200 bis 240 Euro pro Quadratmeter gehandelt, die Gemeinde besitzt derzeit keinen einzigen mehr. „Tja“, sagt Fischer, „auch das ist ein Unterschied.
Bei uns kostet der Quadratmeter 40 Euro, und wir sind froh, wenn mal einer weg geht.“ Einig sind sich die beiden Bürgermeister in der Flüchtlings-Debatte: „Denen, die aus Kriegs- und Krisengebieten kommen und Schutz suchen, muss geholfen werden.“ Im fränkischen Erlabrunn sind derzeit 21 Asylbewerber in dezentralen Einheiten untergebracht, im sächsischen sind es sieben. International sind beide Orte: In dem Dorf im Erzgebirge leben Menschen aus 16 Nationalitäten zusammen, im fränkischen Pendant sind es gar 26, darunter Menschen aus Griechenland, Thailand, Mexiko oder Brasilien.
Im Gespräch entdecken die Bürgermeister weitere Gemeinsamkeiten: „Der Glaube ist einer unserer Grundfeste“, sagt der evangelische Bürgermeister aus dem protestantisch geprägten Erzgebirgs-Erlabrunn, und sein katholischer Gast nickt zustimmend. „Der Erlabrunner feiert gerne“, sagt Benkert. „Das ist hier auch 1:1 so“, antwortet Fischer, das Holz für das Höhenfeuer am 2. Oktober ist schon geschichtet.
Wie Erlabrunn in Franken so sieht auch Erlabrunn in Sachsen 25 Jahre nach der Einheit seine Zukunft in der Natur, in der Erholung, im Sport. Mountainbiken wird immer beliebter, es gibt großartige Wanderwege und auf den über 1000 Meter hohen Gipfeln des Erzgebirges ist Wintersport angesagt. „Wir unternehmen in diesem Bereich große Anstrengungen und verzeichnen ordentliche Zuwächse.“ In der Region Breitenbrunn mit seinem sächsischen Sportleistungszentrum Rabenberg seien im vergangenen Jahr 150 000 Übernachtungen registriert worden. In dieser Beziehung ist Erlabrunn am Main noch ein Geheimtipp, aber die abwechslungsreiche Natur aus Clematisgärten, Obstbäumen, Weinbergen und dem Schwarzkiefernwald zieht auch hier immer mehr Touristen an.
„Wir sind die Perle am Main“, sagt Thomas Benkert, und Ralf Fischers Replik kommt wie abgesprochen: „Wir der Kristall im Erzgebirge.“
Der Tag neigt sich dem Ende zu. Fischer verspricht einen Gegenbesuch. Er sagt nicht Drüben. Er sagt: „Bei Euch.“ Erlabrunn, hier wie dort, es liegt seit 25 Jahren auf der gleichen Seite der Grenze.