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Auf den Spuren der Ameisen
Biologie: Vor zwei Jahrzehnten führten zwei Forscher mit einem berühmt gewordenen Werk in die faszinierende Welt der Ameisen ein. Jetzt ist es neu erschienen – um einige Erkenntnisse erweitert.
Von unserem Redaktionsmitglied Alice Natter
 |  aktualisiert: 11.04.2013 21:44 Uhr

Ihre Völker können Millionen Mitglieder umfassen. Sie alle zusammen haben ein Gewicht, das ungefähr dem aller lebenden Menschen zusammen entspricht. Sie haben Königinnen und Soldaten. Sie unternehmen Kriegszüge, sie rauben, sie pflegen Arbeitsteilung, betreiben Landwirtschaft, wälzen den Boden um. Sie sind erfolgreich, weil sie sich extrem gut mitteilen können. Seit 120 Millionen Jahren leben sie auf der Welt – und zählen zu den ökologisch wichtigsten Tieren überhaupt.

Was, wenn es keine Ameisen gäbe?

„Wenn die ganze Menschheit von der Welt verschwände“, sagt Bert Hölldobler, „würde sich der Rest der Arten, der überlebt hat, erholen und aufblühen.“ Das massenhafte Aussterben wäre beendet, die Zerstörung der Artenvielfalt durch den Menschen gestoppt. Die geschädigten Ökosysteme würden sich erholen und wieder ausdehnen.

Den Menschen würde die Natur nicht vermissen. Was aber, wenn es keine Ameisen mehr gäbe auf der Welt? „Verschwänden alle Ameisen, wäre der Effekt genau umgekehrt, und es gäbe eine Katastrophe“, sagt der Biologe. „Der Artenschwund würde noch mehr beschleunigt und die Landökosysteme schrumpften noch rascher, wenn diese Insekten ihre tief greifenden ökologischen Funktionen nicht länger erfüllten.“

„Verschwänden alle Ameisen, gäbe es eine Katastrophe.“
Bert Hölldobler

Die Ameisen, sagt Bert Hölldobler, helfen uns, die Welt und die Natur „nach unseren Bedürfnissen im Gleichgewicht zu halten“. Der 78-jährige Forscher hat sich ihnen verschrieben, den Insekten, die neben dem Menschen die vorherrschenden Landorganismen überhaupt sind.

Seit seinem achten Lebensjahr, seit einem Waldspaziergang mit dem Vater bei Ochsenfurt, ist Bert Hölldobler von Ameisen fasziniert. Der Vater war begeisterter Zoologe und Insektenforscher gewesen und drehte entlang des Wegs -zig Holzstückchen und Steine um. Und das Schauspiel, das sich da bot – hektisch umherrennende Rossameisen, die Larven und in Kokons gesponnene Puppen packten und in unterirdische Gänge und Nestkammern schleppten – fesselte Vater wie Sohn.

Der Junge aus Ochsenfurt begann lebende Kolonien zu sammeln und sie zu Hause, in künstlichen Nestern, zu beobachten. Aus dem Hobby wurde Beruf. Bert Hölldobler studierte Biologie und Chemie, promovierte 1966 mit einer Arbeit über das soziale Verhalten der Holzameisen-Männchen und die Organisation der Ameisenstaaten, ging als Professor in die USA – und übernahm 1989 schließlich den Lehrstuhl für Verhaltensphysiologie und Soziobiologie an der Würzburger Universität.

1991 wurde der Soziobiologe über die Wissenschaftswelt hinaus bekannt: Zusammen mit seinem US-amerikanischen Kollegen hatte er 1990 „The Ants“, ein umfassendes Werk über Ameisen, geschrieben. Eine Enzyklopädie eigentlich, ein 3,4 Kilo schweres Handbuch der wissenschaftlichen Erforschung der Ameisen, gerichtet in erster Linie an Biologen. Doch das Nachschlagewerk fand große Beachtung in der breiten Öffentlichkeit. Und vor allem, es wurde überraschend als erstes (und bislang einziges) wissenschaftliches Werk mit dem Pulitzer-Preis für allgemeine Sachliteratur bedacht.

„The Ants“ sei kein Buch, das man von vorne bis hinten durchliest. Und es mache auch nicht den Versuch, das Aufregende der Forschung über die Insekten zu vermitteln, sagt Hölldobler. So fasste er mit seinem Kollegen und Freund Edward O. Wilson das Interessanteste der Ameisenforschung zusammen und schrieb – in weniger wissenschaftlichem Jargon – „Journey to the Ants“. 1995 erschien die erste Auflage unter dem Titel „Ameisen – Die Entdeckung einer faszinierenden Welt“ auf Deutsch. Wieder erhielten die leidenschaftlichen Ameisenforscher dafür einen Preis: „Bild der Wissenschaft“ zeichnete die Naturgeschichte der Ameisenwelt als Wissenschaftssachbuch des Jahres aus.

20 Jahre sind seitdem vergangen, Bert Hölldobler lehrt und forscht – an der Würzburger Universität längst emeritiert – heute wieder in den Vereinigten Staaten. Er lehrt an der Arizona State University in Tempe und hat dort zusammen mit dem Bienenforscher und Verhaltensgenetiker Robert Page eine große internationale Wissenschaftlergruppe aufgebaut, die soziale Insekten erforscht. „Seit dem Erscheinen von 'The Ants' hat die Ameisenforschung weltweit eine enorme Entwicklung erfahren“, sagt Bert Hölldobler. Die staatenbildenden Insekten sind für viele Forschungsrichtungen die wichtigsten „Modellsysteme“ geworden.

Nachdem von sechs Ameisenarten inzwischen das gesamte Genom, das heißt die gesamte genetische Information, entschlüsselt worden ist, sind die Insekten das ideale Objekt, um Entwicklungsprozesse zu untersuchen. Eine der Fragen, die die Forscher beispielsweise beschäftigt: Wie können unterschiedliche morphologische Kasten entstehen, wenn jedes Individuum das gleiche Erbgut besitzt?

„Ameisen sind nach wie vor die wesentlichen Organismen, an denen die Evolution von sozialem Verhalten im Tierreich untersucht wird“, sagt Hölldobler. Nicht zuletzt dienen die Insekten Computerwissenschaftlern und Robotik-Ingenieuren als anregende Modelle für Simulationen und Entwicklungen.

Und dann ist da noch die komplexe chemische Verständigung der Ameisen untereinander, die die Wissenschaftler zu ergründen suchen: Mit einem hoch entwickelten Kommunikationssystem steuern die Insekten ihre erstaunliche Arbeitsteilung.

Das Substanzgemisch, das die Ameisen aus einer Vielzahl von Drüsen im Körper absondern, können die Nestgenossinnen über ihren Geschmacks- und Geruchssinn wahrnehmen. Und es löst bei ihnen – je nach Zusammensetzung und äußeren Umständen – viele verschiedene Verhaltensweisen aus: Sie sind alarmiert oder werden angelockt, sie betreiben Brutpflege oder beginnen mit der Fütterung. Häufig werden die chemischen Signale mit mechanischen Reizen, mit Berührung oder Vibration verbunden. Mit Hölldoblers Worten: „Ameisen sind – wie der Mensch – so erfolgreich, weil sie sich so gut mitteilen können.“

Erfolgreich war auch Hölldoblers und Wilsons populäres Ameisen-Buch von 1995. Im Jahr 2001 erschien „Die Entdeckung einer faszinierenden Welt“: eine unveränderte Paperback-Auflage. Beide Auflagen sind längt vergriffen, das Interesse an Ameisen ist unverändert – und die Nachfrage nach dem Buch war bleibend groß.

„Ameisen sind so erfolgreich, weil sie sich so gut mitteilen können.“
Bert Hölldobler

Jetzt haben die beiden Wissenschaftler ihre Naturgeschichte der Ameisen überarbeitet, erweitert und unter dem Titel „Auf den Spuren der Ameisen“ im Springer-Verlag neu herausgebracht.

Da geht es beispielsweise um die territorialen Strategien, die oft zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen, denen aber meistens ein Kosten-Nutzen-Prinzip zugrunde liegt. Da geht es um sozialen Parasitismus und Sklaverei, um ritualisierte Schaukämpfe und Täuschungsmanöver, fremde Eindringlinge, die sich in den besten Nischen des Ameisennestes niederlassen und von Ameisen wie deren Larven gepflegt und gefüttert werden, weil die Eindringlinge die chemischen Signale der Larven imitieren. Und es geht um viele andere erstaunliche Phänomene in der Welt der Ameisen.

Ameisen oder Mensch? Wer wird überleben, fragen Hölldobler und Wilson im Nachwort ihres Buchs. Ihre Antwort: „Die Menschheit wird ohne Frage weiterleben, genauso wie die Ameisen.“ Durch den Menschen verarmt die Welt, Wälder und Savannen verschwinden und mit ihnen ungezählte Arten. „Aber einige Ameisenkolonien werden irgendwo überleben, und sie werden weiterhin ihre vererbten Zyklen durchlaufen, als ob sie in einer unberührten Welt vor dem Auftauchen der Menschheit leben würden“, schreiben die beiden Wissenschaftler.

Nach mehr als 100 gemeinsamen Forscherjahren wissen sie sicher: Zwei Stelzwurzeln, die Rinde eines umgefallenen Baumes oder die Erde unter ein paar verstreuten Steinen genügen – die kleinformatigen Lebensräume der Ameisen werden die Ökosysteme unserer Größenordnung überdauern.

Buch-Tipp: „Auf den Spuren der Ameisen – Die Entdeckung einer faszinierenden Welt“, Bert Hölldobler und Edward O. Wilson, vollständig überarbeitete und ergänzte Auflage, 2013, 419 S., 29,95 Euro, ISBN 978-3-642-32565-6

(huGO-ID: 21472624)  Nur mit Erlaubnis Hölldobler / Springer Verlag  FOTO Springer Spektrum
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Auf den Spuren der Ameisen
 
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