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Mainbernheim
Wort zum Wochenende: Warten auf die Züge aus Prag
Paul Häberlein
Foto: Hanspeter Kern | Paul Häberlein
Paul Häberlein
 |  aktualisiert: 16.10.2024 16:49 Uhr

Vor 35 Jahren stand ich an einem Oktobermorgen auf einem Bahnsteig in Hof. Die ganze Nacht hatte ich schon mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bahnhofsmission auf die Züge aus Prag gewartet. Es war bitterkalt. Der erste Nachtfrost hatte uns frieren lassen. Ein Meer von Satellitenschüsseln war vor dem Bahnhof aufgebaut. Irgendwann kam ein Reporter des kanadischen Fernsehens in die Räume der Bahnhofsmission und bat um ein Interview.

Unvergessliche Eindrücke und Bilder. Da war die Mutter, die aus Stuttgart kam. Sie hatte ihren Sohn in der Tagesschau unter den Menschen in der Prager Botschaft erkannt. „Hoffentlich kommt er mit den Zügen raus!“ – hat sie mir immer und immer wieder gesagt. „Hoffentlich!“

Die ganze Nacht haben wir miteinander gewartet. Stunden wurden zur Ewigkeit. Als der erste Zug kam, konnte sie ihren Sohn endlich in die Arme schließen. Unfassbar und unbeschreibbar die Emotionen dieser Nacht.

Irgendwann kam ein bunt zusammengewürfelter Posaunenchor und stimmte den alten Choral „Nun danket alle Gott!“ an. Viele standen mit Tränen in den Augen neben mir auf diesem Bahnsteig. Es war der 1. Oktober des Jahres 1989, 6 Uhr und 14 Minuten. Ein neuer Tag und eine neue Welt lagen vor uns. 1210 Menschen hatten es geschafft, ihren Weg in die Freiheit.

Eine spannende Nacht, in der viele Gerüchte die Runde gemacht haben. Volkspolizei wäre entlang der Bahnstrecke in Bereitschaft. Hubschrauber sollten über den Durchgangsbahnhöfen kreisen. Man wollte unbedingt verhindern, dass in der damaligen DDR noch Menschen auf die Züge aufspringen. Vieles stand aus Messers Schneide in jener Nacht.

Dann aber der Schrei der Menschen, als der erste Zug kam. Die Tränen, das Lachen, die Umarmungen, die Freude – viele, viele Bilder, die sich fest in mir eingewurzelt haben. Bilder und Eindrücke, Erlebnisse und Begegnungen in jener Nacht, an jenem Morgen und den folgenden Tagen, die mich noch heute berühren.

Eine junge Familie war ein paar Stunden bei uns zu Gast. Sie haben uns von den Tagen in der Botschaft in Prag erzählt. Immer wieder auch von dem Moment als Hans-Dietrich Genscher den Balkon betreten hat, um den Menschen mitzuteilen, dass ihre Ausreise genehmigt sei.

Für mich ist es noch heute, 35 Jahre später, ein Wunder, dass Stacheldraht und Todesstreifen ohne Blutvergießen, ohne Gewalt, nur mit Kerzen, Friedensgebeten und friedlich demonstrierenden Menschen überwunden wurde. Gott, sei Dank! Das sollten wir nicht vergessen.

Paul Häberlein ist Pfarrer in Mainbernheim und Dekanatsjugendpfarrer im Dekanat Kitzingen.

 
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