
Es war ein kalter Wintertag. Schlesien im Januar 1945. Eilig wurde das Nötigste zusammengepackt. Tagelang schon war der Geschützdonner der nahen Front zu hören. Viele Menschen versammeln sich auf dem Dorfplatz. Die Angst ist ihnen ins Gesicht geschrieben. An diesem Tag soll es losgehen. Aufbruch ins Ungewisse. Flucht aus der Heimat.
Da reißt sich ein kleines Mädchen von der Hand seiner Mutter los. Sie rennt noch einmal zurück in das kleine Haus, das ihr Zuhause war. Sie geht noch einmal zurück in die Küche. Dort steht ein Holzkreuz. Kein Kunstwerk. Der Großvater hatte es vor vielen Jahren ausgesägt, bemalt und lackiert.
Der Körper des Gekreuzigten ist aus Blei gegossen. Eher grob und holzschnittartig. Unter dem Gekreuzigten ist eine Schutzmantelmadonna auf der Vorderseite zu sehen. Abgegriffen ist sie. Viele Hände hatten sie in den letzten Jahrzehnten, aber gerade auch in den letzten Wochen und Tagen berührt.
Das Mädchen hält das kleine Kruzifix in ihren Händen. Als der Großvater gestorben war, stand es an seinem Sterbebett. Als sie getauft wurde und die Familie in dieser Küche gefeiert hat, stand es auch da.
Sie bleibt noch einen Moment stehen. Dann packt sie das kleine Holzkreuz schnell in ihren Rucksack. Und sie trägt es durch die Winterkälte, Tag um Tag mit ihrem Rucksack auf dem Rücken. Sie trägt es bis nach Oberfranken.
Jahrzehnte später hat sie mir diese Geschichte immer und immer wieder erzählt. Und dieses kleine Holzkreuz stand nun in ihrer Küche. An der Eckbank hatte es seinen Platz. Dort hatte sie es bei sich, Tag um Tag und Jahr um Jahr.
Viel hat sie mir aus ihrem Leben erzählt. Von den Nachkriegsjahren, als sie in unserem Dorf eine neue Heimat fand. Und irgendwann hat sie einmal zu mir gesagt: "Nicht ich habe ihn hierhergetragen, sondern der Herr Jesus hat mich getragen. Mein Leben lang."
Und eines ihrer Lieblingslieder stammt auch von einem Schlesier. Jochen Klepper schrieb diese wunderbaren Verse: "Ja, ich will euch tragen, bis zum Alter hin. Und ihr sollt einst sagen, dass ich gnädig bin. Lasst nun euer Fragen, Hilfe ist genug. Ja, ich will euch tragen, wie ich immer trug."
Der Autor: Paul Häberlein ist Pfarrer in Mainbernheim und Dekanatsjugendpfarrer im Dekanat Kitzingen.