Liebe Leserinnen und Leser,
einfach die Zukunft mitgestalten, das möchte ich gerne – mit vielen verschiedenen Menschen zusammen. Dazu verlockt mich der Bibeltext: „Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasst uns ablegen alles, was uns beschwert und uns umstrickt. Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens“ (Hebräerbrief 12,1 + 2).
Diese Wolke von Zeugen hat viel erlebt. Dazu gehören große Persönlichkeiten wie Noah, Abraham und Mose, auch Frauen wie Sara und Rahab, wie Ruth und Debora – wichtige Bausteine der Geschichte Gottes mit uns Menschen. Es sind ihre Lebensgeschichten, die Gott gebraucht, um auf uns Menschen zuzugehen und seine unveränderliche Absicht, unter uns zu sein, und seine Treue zu verdeutlichen. Ja, Gott wird als mitgehender Gott erlebt – in allem: „Da, wo du bist, bin ich auch!“ Das gilt von Anfang an, auch für uns.
Doch höre ich dabei mir vertraute Fragen: Was bedeutet das nun für meinen und Ihren Alltag? Ist unser Leben auch eines, das für den Lauf der Welt entscheidend ist? Kann unser Leben ebenso Veränderung bewirken? Oder hat es das vielleicht schon getan? Allzu schnell kommen wir zum Schluss: Mein Leben ist viel zu kurz, zu langweilig, zu durcheinander, zu nichtssagend, und eigentlich habe ich gar nichts erlebt.
Das klingt zutiefst menschlich. Genau da liegt aber der Knackpunkt. In der Bibel lesen wir oft von großen Heldentaten, aber auch von Scheitern und Versagen und dann wieder durch Gottes Zuwendung und Zugkraft ein Weitergehen. Sie erzählt von Gottes Eingreifen in die Weltgeschichte und in ganz individuelle Lebensgeschichten. Diese Zeugnisse sollen ermutigen, auch zwischen den Zeilen der Geschichten zu lesen. Zu sehen, dass es letzten Endes nicht um uns Menschen geht, sondern darum, was Gott durch uns tut in dieser immer zerstrittener Welt. Es geht um Gottes aufrichtenden Segen und seine liebevolle Reaktion auf menschliches Unvermögen und Scheitern. Es geht um seine Befreundung mit uns. Es geht darum, dass er uns als Landeplatz seiner Liebe und seiner schöpferischen Zukunftskraft sucht. Es geht darum, dass er nicht allein auf irgendeinem hohen und erhabenen Thron regieren will, sondern mit uns, mit jedem einzelnen von uns. Er will mit uns Leben, Schöpfung, Frieden, Lustigkeiten und mehr gestalten.
So bedeuten auch Jahre 75 Jahre Communität Casteller Ring keine Sammlung von Heldentaten, sondern ein großes Patchwork Gottes mit Menschen, die ihr Leben, ihre Zeit, ihre Gaben ihm zur Verfügung stellten, damit er sie braucht, um Heilsames zu wirken und zu verbreiten, ja, ihn zu leben mitten in unserer Welt. 75 Jahre Vertrauen, Beten, Glauben, Scheitern und Lernen im ganz normalen Alltag im Schlösschen zu Castell zunächst und seit 1957 auf dem Schwanberg. Gerade im Blick auf unser Jubiläum im kommenden Jahr 2025 gehen wir miteinander durch unsere Vergangenheit und Gegenwart, um die Reise in die Zukunft greifbar zu machen.
An uns liegt es, Gottes Wirken und Handeln – teils ganz deutlich und sichtbar, teils etwas versteckter – zwischen den Zeilen der eigenen Geschichte zu erkennen und zu feiern. Das hilft uns, uns selbst besser zu verstehen für das Morgen, für Gottes Zukunftsvision. Und da wollen wir Sie alle dabeihaben: mit Ihrem Dank, mit Ihren Anfragen, mit Ihrer Kritik, mit Ihren Ideen, mit Ihrem Mit-uns-sein, sei es in den Gottesdiensten und Gebetszeiten, sei es im Bistro oder im Klosterladen oder auf dem Spielplatz, in den vielfältigen Konzerten, sei es mit verschwitzten Füssen im Brunnen vor der Kirche, sei es in der Stille im Kreuzgang oder als Gast für einige Tage mit uns oder hoffnungsvoll beigesetzt im Friedwald.
Mit Ihnen wollen wir das noch in uns verborgene Potenzial für eine Art „Mut-Anfall“ entdecken, das neue Schritte ermöglicht. 75 Jahre sind ja erst der Anfang – ein kleiner Wimpernschlag im großen Bild der Zeit. Wo stehen wir in 75 Jahren? Wir lernen von den großen Zeugen und Zeuginnen der Geschichte die Vision für unser gemeinsames Leben in dieser Welt weiter zu schärfen und Ewigkeitswert zu entfalten und zu verschenken.
Schwester Ruth Meili , Evangelisches Kloster Schwanberg
Schwester Ruth Meili, geboren 1941 am Zürichsee, und ausgebildete Gymnasiallehrerin, trat 1971 in die evangelisch-benediktinische Ordensgemeinschaft Communität Casteller Ring ein. Nach einem Engagement in Schule und Internat auf dem Schwanberg gründete sie mit weiteren Schwestern eine Teestubenarbeit in München-Schwabing. 13 Jahre war sie nach der politischen Wende mit Mitschwestern am Augustinerkloster zu Erfurt. Seit 2010 sind alle Schwestern zurück auf dem Schwanberg in verschiedenen Arbeitsgebieten.