Niemand kennt ihren Namen. Niemand weiß, wie alt sie war. Alles, was man von der jungen Frau sagen kann, stammt aus den mündlichen Überlieferungen der Menschen, die das Schicksal des Mädchens über Jahrzehnte und wohl sogar Jahrhunderte hinweg bewegte. Ein Stein im Wald trug – und trägt – ebenfalls dazu bei, dass die Geschichte, die dem Mordgrund seinen Namen gab, nicht vergessen wird.
Hans Hüßner und Paul Schatz sind Feldgeschworene, sogenannte Siebener. Die gestandenen Männer aus dem Casteller Ortsteil Wüstenfelden kennen die Flur so gut wie kaum jemand sonst. Schon als Hüßner und Schatz noch ganz jung waren, wussten sie um den verwitterten kleinen Felsen zwischen Wüstenfelden und Ziegenbach. Überwuchert von wilden Brombeeren und anderen Sträuchern, war der etwa 60 Zentimeter hohe Stein ein stummer Zeuge einer längst vergangenen Untat.
Frost, Schnee und Regen haben dem Stein zugesetzt
Auch wenn Frost, Schnee, Regen und Hitze ihm über lange Zeit zugesetzt hatten: „Das Spinnrädchen, das jemand in den Stein gehauen hatte, konnte man noch erkennen“, berichtet Paul Schatz.
Hans Hüßner nickt. In seiner Erinnerung war der Stein geborsten beziehungsweise er bestand aus mehreren Einzelteilen. Verifizieren lässt sich das nicht mehr. Denn leider ist der alte Zeitzeuge verschwunden, nachdem der Heimatverein Castell-Greuth-Wüstenfelden im Jahr 2007 einen neuen Stein an die historische Stelle setzte. Der Verein unter seinem damaligen Vorsitzenden Jochen Kramer wollte vermeiden, dass mit dem Verfall des ursprünglichen Steins auch die Geschichte des Mädchens dem Vergessen anheimfällt, und beauftragte deshalb den Steinmetz Udo Platz damit, aus Muschelkalk einen neuen Stein zu fertigen – mit einem eingemeißelten Spinnrad, wie beim Original.
Flachs war lange Zeit die wichtigste Faserpflanze
Warum ein Spinnrad? Wie überall in Bayern und Franken war Flachs beziehungsweise Lein lange Zeit die wichtigste Faserpflanze, um Leinfasern und daraus Textilien herzustellen. „In Wüstenfelden wurde Flachs angebaut“, weiß Paul Schatz. Nicht umsonst hat sich bis heute die Bezeichnung „Flachsäcker“ gehalten. Um Martini herum, als die Feldarbeit weitgehend beendet war, begann früher die Spinnstubenzeit. Bis ins 19. Jahrhundert trafen sich Frauen und Mädchen nach Einbruch der Dunkelheit zum gemeinsamen Flachsspinnen. Das gesellige Beisammensein gehörte im Winterhalbjahr fest zum Dorfleben.
Beim Spinnen sangen und musizierten die Frauen auch. Überliefert ist dieses Lied: „Dreh dich, dreh dich, Rädchen – spinne mir ein Fädchen – viele, viele hundert Ellen lang! – Hurtig, hurtig muss man spinnen, Mütterchen braucht frisches Linnen – Darum, Rädchen, ohne Ruh' – dreh dich, dreh dich, immerzu.“ Wenn sie nicht sangen, erzählten die Frauen einander Geschichten, während sie die Flachsfasern bearbeiteten. Das Leinentuch, das sie herstellten, war fast ebenso wichtig wie das tägliche Brot. Da Baumwolle für die einfache Bevölkerung viel zu teuer war, wurden Oberbekleidung, Wäsche und Tücher aus Flachs hergestellt.
Zu den Wüstenfelder Frauen gesellte sich an den Spinnstubenabenden einst auch ein Mädchen aus dem nahen Ziegenbach. Ob es an jenem schicksalhaften Tag zu spät aufbrach und in der Dunkelheit nach Hause lief? In der Casteller Chronik heißt es nur, die junge Frau sei „der Sage nach“ auf dem Heimweg von einem jungen Burschen überfallen worden. Als sie nicht heimkam, suchten ihre Eltern nach ihr. Sie fanden ihre Tochter leblos im Wald – ermordet.
Wann genau dies geschah, lässt sich nicht mehr feststellen. Archivar Jesko Graf zu Dohna hat keine Aufzeichnungen gefunden. Doch der Stein, den die Angehörigen zur Erinnerung an die Ermordete im Wald aufgestellt hatten, und die mündliche Überlieferung der Menschen sprachen und sprechen Bände.
Knappe halbe Stunde von Wüstenfelden aus
Noch heute heißt die Waldabteilung „Spinnrädchen“. Doch den Stein darin zu finden, ist gar nicht so einfach – auch wenn der neue Felsbrocken etwa doppelt so hoch ist wie der alte. Da viele Wüstenfeldener den Wunsch geäußert hatten, den Stein einmal mit eigenen Augen zu sehen, luden die Siebener alle Interessierten im September zu einem Spaziergang Richtung Mordgrund ein. Von Wüstenfelden aus brauchten Jung und Alt nur knapp eine halbe Stunde, bis sie am Spinnrädchen ankamen.
Zurück im Ort, gab es zur Stärkung Bratwürste und Getränke, für die nicht bezahlt werden musste; es durfte aber gerne eine Spende zugunsten der Flutopfer im Ahrtal geleistet werden. Die Bürger spendeten eifrig – über 380 Euro kamen spontan zusammen. Rund 220 Euro legte der Verein „Dorfjugend Wüstenfelden“ drauf.
„So konnten wir der tragischen Geschichte um das junge Mordopfer zumindest noch einen kleinen positiven Aspekt abgewinnen“, meinte Jürgen Weber von der Dorfjugend, der 600 Euro an die Flutopfer überwiesen hat.
INFO: Wer den Stein einmal mit eigenen Augen sehen möchte, fragt am besten direkt in Wüstenfelden nach der Waldabteilung „Spinnrädchen“. Ausgeschildert ist die Strecke nicht.