Marion Warschechas Gefühlsleben schwankt zwischen Freude und Bedrückung. Wenige Tage, nachdem die ehrenamtliche Helferin und die parteilose Stadträtin Andrea Schmidt zu Gast bei „Stern-TV“ (RTL) waren und dort über die Zustände im Kitzinger Notwohngebiet berichtet haben, häufen sich die privaten Hilfsangebote. „Per Facebook, Mail oder ganz direkt nehmen Menschen Kontakt zu mir auf und möchten uns unterstützen“, sagt die 50-jährige Kitzingerin. „Das ist wunderbar. Andererseits: Der desolate bauliche Zustand der vier Wohnblocks in der Siedlung wird sich so schnell wohl nicht verbessern.“ Einige Wohnungen haben keine Bäder, in anderen gibt es nur kaltes Wasser und in vielen wuchert der Schimmel.
Extrem niedrige Miete
Oberbürgermeister Siegfried Müller (Unabhängige Soziale Wählergruppe) hatte in einer Pressekonferenz zum Thema gesagt, die Wohnungen seien schließlich nur für einen kurzen Aufenthalt von maximal drei Monaten gedacht.. Allerdings ist jedem, auch Müller, klar: Wenn sich die Lebensumstände der Menschen in diesen drei Monaten nicht erheblich verbessern, passiert schlicht und ergreifend: gar nichts. „Natürlich wissen wir, dass die extrem niedrige Miete von 2,50 Euro pro Quadratmeter viele bleiben lässt, weil andere Wohnungen zu teuer sind", sagt Müller.
An diesen Missständen wird wohl auch der Beitrag in der TV-Sendung nichts ändern können.
Vermehrte Einweisungen in den vergangenen Jahren haben das Problem noch verschärft. Insgesamt leben derzeit 110 Gemeldete im Notwohngebiet, aber es ist wahrscheinlich, dass weitere Nicht-Gemeldete dazugezählt werden müssen. Die Abwärtsspirale zu stoppen, sei nicht Sache der Stadt. „Wir sind als Obdachlosenbehörde nur die letzte Instanz“, sagt Müller. Man müsste die Menschen schon viel früher begleiten, um den sozialen Absturz zu verhindern, sagt der OB. Etwa durch die Angebote der Familien- oder Jugendfürsorge.
Obdachlose und Dauermieter
Aber könnte die Stadt nicht selbst aktiv werden? Stichwort: sozialer Wohnungsbau? Oder Wohnungen sanieren und selbst jemanden einstellen, der sich gezielt um die Notwohner kümmert? „Das ist eine politische Entscheidung des Stadtrates“, sagt Müller und verweist auf ein seit 2017 laufendes „Symposium“ aus Behörden und Wohlfahrtsverbänden, dessen Ziel es sei, die Situation im Notwohngebiet zu verbessern und „eine Trennung zwischen Obdachlosen und Dauermietern hinzubekommen“. Wann und wie dies vonstatten gehen könnte, wagt Müller nicht zu prognostizieren. „Klar ist, dass das nicht von heute auf morgen geht.“
So werden die Notwohner also wohl noch eine ganze Weile in ihrem „Ghetto“ leben müssen – zum Glück unterstützt von ehrenamtlichen Helfern, die die Begegnungsstätte „Wegweiser“ regelmäßig öffnen und dort die Möglichkeit zum Duschen sowie vielfältige individuelle Hilfe bieten. Marion Warschecha ist eine der Engagierten. Sie sagt: „Das Ehrenamts-Team wird in jeglicher Hinsicht allein gelassen. Es gibt keine soziale Unterstützung seitens der Stadt, keine Sozialarbeiter oder Ähnliches.“
Wohnungen ohne Bad
Und es fehle schlichtweg an schimmelfreien, hygienisch unbedenklichen Wohnungen. „Warum werden Familien oder alleinerziehende Mütter mit Kindern überhaupt in ein Zwölf-Quadratmeter-Zimmer gesteckt, in dem sich kein Bad befindet und die Wände schimmeln und zwar nicht, weil die Bewohner schlecht lüften würden, sondern weil das Dach undicht ist, die Wände nass sind und Fenster nicht richtig schließen? Unter solchen Umständen sollte kein Kind leben und auch kein erwachsener Mensch.“
Monika Kusak schluckt bei diesen Worten schwer. Die 28-Jährige lebt seit einem Jahr mit ihrem Kind im Notwohngebiet. Der kleine Elias ist ein aufgeweckter Bub. Während Mama sich unterhält, bewacht der Viereinhalbjährige sein Fahrrad. Man weiß ja nie… Im Kitzinger Notwohngebiet bekommen selbst Räder manchmal Füße. Das will Elias auf jeden Fall verhindern.
Angst und kein Vertrauen
Monika Kusak liebt ihren Sohn. Es schmerzt sie, ihn hier vor einem der heruntergekommenen Wohnblocks zu beobachten. Sie weiß: Er hat schon zu viel gesehen und miterlebt. Einbruch, Randale, Sachbeschädigung – selbst Erwachsene können so etwas nicht leicht verarbeiten. „Unsere Wohnungstür ist eine ganz normale Zimmertür – ein fester Tritt und sie steht offen. Einmal ist schon eingebrochen und Geld gestohlen worden. Ein anderes Mal hat man unseren Schuhschrank, der vor der Tür stand, über die Brüstung hinunter auf den Boden geworfen.“ Wer das war? Monika Kusak zuckt mit den Schultern: „Weil der Zugang zu den Wohnungen über einen Gemeinschaftsbalkon erfolgt, kann da im Prinzip jeder hin.“
Die 28-Jährige sagt leise: „Ich traue nicht vielen hier und ich habe Angst. Für ein Kind ist das kein Zustand. Am allermeisten wünsche ich mir eine Wohnung, in der Elias sich entfalten und ganz normal aufwachsen kann.“
Schutzlos ausgeliefert
Eine solche Bleibe sucht die alleinerziehende Mutter seit einem Jahr. Vergebens. Fehlendes Vermögen und das Stigma Notwohnerin tun ihr Übriges, um die Suche zu erschweren. „Je länger man hier im Notwohngebiet lebt, desto schlimmer wird es. Man fühlt sich ausgeliefert, schutzlos“, sagt Monika Kusak, der mittlerweile Depressionen schwer zu schaffen machen.
„Wer einmal hier wohnt, kommt schwer wieder raus.“ Umgekehrt war der Weg vom „normalen Leben“ in die Notwohnung gar nicht so weit. Alles begann vor gut einem Jahr. Die junge Mutter verlor ihre „schöne, geräumige Wohnung“. Aus Mitleid hatte sie ihren Bruder aufgenommen, der ihr das jedoch nicht dankte. Aufgrund seines Verhaltens bekam sie am Ende eine Räumungsklage, musste ausziehen. Sie landete mit dem damals dreijährigen Elias im Notwohngebiet. „Wir haben hier ein Zimmer. Und keine Dusche, was ich sehr schlimm finde, auch für mein Kind“, sagt Monika Kusak.
Kalte Räume
„Schrecklich ist auch der Schimmel überall. Und das Loch im Fenster, das noch von den Vormietern stammt und das nur mit einem Pappkarton abgedeckt ist.“ Die Kälte von draußen kriecht beständig in den Raum hinein. Ob sie das der Stadt Kitzingen als Vermieterin der Wohnung gesagt hat? Monika Kusaks Augen werden feucht. „Ja, ich bin hingegangen. Aber die behandeln einen wie einen Aussätzigen. Sie haben mir gesagt, ich sei ja wohl selbst schuld an meiner Lage.“
Dabei ist das mit der Schuld so eine Sache. Natürlich wäre es besser gewesen, wenn Monika Kusak ihre Konditorlehre nicht abgebrochen hätte oder wenn sie eine Einzelhandelsausbildung „komplett durchgezogen“ hätte. Aber damals ist eben einiges in ihrem Leben nicht ganz glatt gelaufen; und nicht jeder hat starken familiären Rückhalt, der ihn auffängt. „Jetzt würde ich so gerne arbeiten, in Teilzeit, egal ob in einem Hotel oder in einem Laden, ich bin flexibel und möchte Geld verdienen, während Elias im Kindergarten ist.“ Bei Elias‘ Betreuung kann Monika Kusak stundenweise auch auf ihre Mutter zählen. „Sie hilft mir schon, wo sie kann.“ Wohnraum hat die Mutter jedoch nicht zu bieten. „Ich muss das selbst irgendwie schaffen.“
Keine Einladungen möglich
Am schlimmsten ist es für die 28-Jährige, dass „man von anderen Leuten nicht mit Respekt behandelt wird“. Wenn Menschen auf sie herunterschauen, fühlt sie sich elend – so, als würden Körper und Seele gleichzeitig frieren. So etwas soll Elias nicht erleben. Nachts schläft er – eingemummelt in viele Decken – neben seiner Mama. Auf der Couch. Die ist tagsüber Sitzgelegenheit, nachts Bett.
Im Kindergarten läuft gerade das Projekt: „Zeig dein Zimmer!“ Die Kinder sollen Bilder ihres Zimmers mitbringen. Monika Kusak fragt sich, was sie Elias für ein Foto geben soll. Sie wischt sich Tränen aus dem Augenwinkel und sagt: „Bis Elias in die Schule kommt, müssen wir spätestens hier weg sein. Hierher kann er ja nie Freunde einladen oder Geburtstag feiern – und wenn, dann würde niemand kommen.“
Notwohngebiet Kitzingen
Das Ghetto: Die vier Notwohnblocks in der Egerländer Straße 22, 24 und 26 sowie in der Tannenbergstraße 37 wurden Anfang der 1960-er Jahre am Rand der 21 000-Einwohner-Stadt Kitzingen gebaut. Sie boten 120 Schlichtwohnungen, also kleine Wohnungen mit einfachster Ausstattung für sozial schwächere Menschen wie die „Schrottler“, die Schrotthändler, die vorher in Holzbaracken dort am Stadtrand gewohnt hatten. Mitte der 1980-er Jahre begann die Stadtverwaltung damit, auch Obdachlose einzuweisen – zur Aufnahme Obdachloser ist jede Kommune gesetzlich verpflichtet.
Die Bewohner: Aktuell sind in den Blocks der Egerländer Straße sowie der Tannenbergstraße 110 Menschen. Ziemlich sicher leben auch noch einige nicht Gemeldete dort. Es sind Knastbrüder, Verwahrloste und Gewaltbereite darunter, aber auch Familien mit kleinen Kindern, Kranke und Alte. Zwei Drittel haben keine Dusche oder fließend warmes Wasser. Mit 30 bis 40 Personen pro Jahr sind die Obdachlosen in der Minderheit, das Gros sind Dauermieter. Manche zahlen ihre Miete pünktlich und halten ihr Umfeld sauber, andere zahlen nicht und machen Dreck. Immer wieder kommt auch die Polizei. Drogen und Alkohol tun ihr Übriges.
Erster Protest: 2015 gingen einige der Bewohner mit selbst gemalten Plakaten auf die Straße. Mit Hilferufen wie „Menschenwürde auch für uns“ und „Wir möchten auch duschen“ machten sie auf ihre prekäre Situation aufmerksam. Der Protest hatte etwas Erfolg: 2016 wurde der „Wegweiser“ eröffnet, ein ehemaliges Café im Notwohngebiet, mit einer Dusche und einer Küche. Ein Team von Ehrenamtlichen um Stadträtin Andrea Schmidt und die in der Siedlung gegründete Hilfsorganisation „Siedler-Sonnenblumen“ ermöglicht regelmäßige Öffnungszeiten. An zwei Abenden pro Woche kann geduscht werden.
Aber in der Tat: Scheinbar brauchte es erst einen Impuls von außen, bis man es als berichtenswert bewertete.