
"Ich wollt' ja gar keiner werden." Hermann Schloßnagel erinnert sich, dass er sich damals einige Tage Bedenkzeit ausbedungen hatte, bevor er nach Krakau fuhr. Es war Christi Himmelfahrt, und wie immer zu dieser Zeit kamen die Mitglieder der Europäischen Nachtwächter- und Türmerzunftzum großen Treffen zusammen. Christoph Wolf aber, der Prichsenstädter Nachtwächter, war unabkömmlich gewesen: Just über Christi Himmelfahrt war 1989 Straßenweinfest im Städtchen im Kitzinger Landkreis, da konnte der Nachtwächter unmöglich fehlen.
Also sprang Hermann Schloßnagel - gelernter Maler und Verputzer und engangiert in Fußballverein, Posaunenchor, Gesangverein - halt ein. Als er zurückkam aus Polen, hatte er nicht nur das Prichsenstädter Original vertreten. Er war offiziell Nachtwächter und feierlich aufgenommen in die europäische Zunft. Der Christoph Wolf hatte das ja gut hingedreht. Als er mal erkältet war, aber eine Busladung mit 70, 80 Leuten auf eine Nachtwächterführung wartete, schenkte er Schloßnagel einen Quittenschnaps ein: "Du machst das."

Und seitdem macht Hermann Schloßnagel das. Holt die Hellebarde mitsamt dem Waffenschein, zieht das schwere dunkle Gewand an, setzt den Hut auf, zündet die Kerze in der Laterne an, hängt sich das große Horn um. Und zieht dann los, durch die winkligen Gassen und gepflasterten Straßen des Kleinstädtchens, das mal kaiserlich, dann markgräflich war. Der Nachtwächter dreht seine Runde, Touristen im Schlepptau. Und am Wochenende schaut er in den Prichsenstädter Gastwirtschaften nach dem Rechten, sagt den Leuten an den Tischen die Zeit an und wirbt nebenbei für den örtlichen Wein.
"Platz für 3400 Hektoliter", sagt Martin Assel, der andere Prichsenstädter Nachtwächter, in der Straße zwischen Westtor und Stadtturm und deutet vor dem Winzerhof Keßler in den Untergrund. Ein Wassergraben sei hier mal gewesen. Und als es im 15. Jahrhundert innerhalb der alten Mauern zu eng wurde und die Stadt wuchs, verfüllte man den Graben nicht, sondern schuf Keller. Gibt's die noch heute? Der Nachtwächter hebt die Braue und nickt. Und dann erzählt er, dass Prichsenstadt auch mal einen Galgen hatte, an dem 17 Personen hingerichtet wurden. Die Kindsmörderin nicht mitgezählt, weil die ertränkt wurde. Auf durchs Arme-Sünder-Gässchen, zum Faulturm, in dem die Gefangenen saßen. "Als Henkersmahlzeit gab's gebackenen Fisch und Spinat", sagt Assel. "Sie haben sich auch im Winter bemüht, grünen Spinat aufzutreiben."
Martin Assel kam ein klein wenig freiwilliger als Hermann Schloßnagelzum Nachtwächter-Ehrenamt. Und aus Familientradition. Sein Großvater, der auch Martin hieß, war 1934 tatsächlich zum letzten offiziellen und hauptamtlichen Nachtwächter in Prichsenstadt bestellt worden. Seit der Stadtgründung anno 1367 hatte es Wächter im Ort gegeben, die darauf achten mussten, dass abends die Stadttore geschlossen waren, die Straßenlaternen brannten, nachts kein Feuer ausbrach und früh morgens um Zwei die Bäcker und das Gesinde der Bauern aus den Federn kamen. Morgens um Vier war Dienstschluss. Bis es eine Stadtpolizei und eine bessere Straßenbeleuchtung gab und man die Nachtwächter nicht mehr brauchte.

Angesehen seien die Nachtwächter sowieso nie gewesen, erzählt Martin Assel. Im Mittelalter galt der Beruf als "unehrlich", also unehrenhaft. Weil die nächtlichen Aufpasser im Dunklen arbeiteten - "und oft auch noch Totengräber waren". Assel selbst wurde vor ein paar Jahren vom Bürgermeister angerufen. Ob an dem Gerücht, dass er gerne in die Rolle seines Großvaters schlüpfen würde, was dran sei. Es war was dran. Und seit 2014 ist der 72-Jährige wie Hermann Schloßnagel in den engen Gassen unterwegs, singt volkstümliche Lieder mit selbstgereimten Texten und erzählt den Leuten Anekdoten und Histörchen aus alter Zeit. „Sachen über die Heimat, die in keinem Buch stehen“.
Manchmal stammen die Geschichtla auch aus nicht so alter Zeit. „Hört ihr Leut' und lasst euch sagen!“ Als Heizungsbauer und Installateur kennt er die Häuser innerhalb der Stadtmauern, in denen heute gerade mal noch 250 statt wie einst 950 Leute wohnen, "von innen und außen". Auf der Runde im schmucken Städtchen - mit dem mittelalterlichen Charme kann Assel jedenfalls darüber plaudern, wie oft er in seinem Berufsleben beim Leitungen- und Rohreverlegen mal ein Gebiss unter dem Sofa fand.

Die Nachtwächter gehören heute wieder zum Prichsenstädter Stadtbild wie die Fachwerkhäuser. Die Legende geht so: Beim Weinfest 1975 hatte jemand die Bier-Kasse geklaut, da kam man beim Fremdenverkehrsverein auf die Idee, wieder einen Nachtwächter einzuführen. Ein Jahr später passte Christoph Wolf auf, dass beim Weinfest niemand Unfug trieb - die Symbolfigur war wiederauferstanden. "Der war der King, ein Pfundskerl", sagen Assel und Schloßnagel über ihren legendären, 2003 verstorbenen Vorgänger. "Die Leute kommen heute noch und fragen nach dem Christoph."
Und von jenem offiziellen Nachtwächter wurde Hermann Schloßnagel vor genau 30 Jahren eben vertretungshalber zum Gildetreffen nach Krakau geschickt. 1987 hatten Nachtwächter mehrerer Länder im dänischen Ebeltoft die "Europäische Nachtwächter- und Türmerzunft" gegründet und sich fortan an Christi Himmelfahrt getroffen, immer in einer anderen Stadt.
137 aktive Nachtwächter und Türmer aus 63 Orten in Dänemark, Polen, England, Niederlande, Frankreich, Schweiz, Österreich, Tschechien, und Deutschland sind heute dabei und pflegen, so die Satzung, die Tradition und das Brauchtum. Richard Lhotsky, der Nachtwächter von Bad Königshofen, ist Zunftmitglied. Hans Georg Baumgartner, der Nachtwächter von Rothenburg, auch. Und Türmer Armin Dominka, der in Ebern in den Haßbergen an jedem ersten Samstag im Monat abends um Neun vom „Grauen Turm“ der Stadt bläst. Wolfgang Mainka, der Würzburger Nachtwächter, war auch lange dabei, trat irgendwann aber wieder aus.

Heuer also kommen die über 100 Kollegen im unterfränkischen Prichsenstadt zusammen. "Zu Ehren von Hermann Schloßnagel", sagt Martin Assel und bläst auf Wunsch in sein großes Horn. Beim Treffen am kommenden Wochenende werden die europäischen Nachtwächter zwischen den Türmen und Toren Prichsenstadts ihre Hymne singen, die von der Freundschaft handelt, über alle Grenzen hinweg.