Was es im Dorf Neuses am Berg (Lkr. Kitzingen) mit den kahlen Häuptern auf sich hat und warum es dort einen Glatzenclub gibt? Das vermag wohl keiner besser zu erklären als Heinrich Stier. Er kann von sich behaupten, dass er „eine Glatze mit 24 000 Quadratmetern“, hat. Und das, obwohl er trotz seiner 72 Jahre noch recht volles Haar auf dem Kopf trägt.
Stier ist Winzer, er weiß haargenau, wie und warum die Weinlage im Dettelbacher Stadtteil 1971 ausgerechnet den Namen „Neuseser Glatze“ erhielt. Eine originelle Bezeichnung musste damals her. Die Nachbarn an der Mainschleife im Landkreis Kitzingen hatten mit „Katzenkopf“, „Lump“, oder „Vögelein“, bereits schön blumig vorgelegt. In Neuses wollte man da nicht nachstehen. Es wurde die „Glatze“. „Zuerst war es ein Flop; der Name kam gar nicht gut an“, erinnert sich Stier.
Gäste aus Hessen verliebten sich in den Ort
Doch das mit dem Flop sollte sich im 400-Einwohner-Dorf Anfang der 1980er-Jahre erledigen. Bereits kurz nach dem allerersten Weinfest 1981 waren die Glatzen in Neuses auf einmal richtig angesagt - dank eines neugierigen südhessischen Unternehmers. Heinrich Gold hieß der Mann aus Schlüchtern, der das Dorf in Franken wegen des ungewöhnlichen Namens der dortigen Weinlage besuchte.
Gold war Präsident des Vereins „Fidele Glatzköpfe Schlüchtern“. Ihm gefiel es so sehr bei Brotzeit und Weinprobe, dass er einen Besuch seines Klubs zum nächsten Weinfest versprach. Daraufhin nahm die Geschichte ihren Lauf, wie Heinrich Stier erzählt.
Die kahlköpfigen Gäste aus Hessen verliebten sich regelrecht in das kleine unterfränkische Dorf und rührten fleißig die Werbetrommel. „Wir hatten 1983 bereits ein internationales Glatzentreffen bei uns. Dafür sorgten die Freunde aus Schlüchtern“, berichtet Stier.
Bedingung für die Aufnahme ist eine echte Glatze
In den Jahren danach machten immer mehr Vereine kahlköpfiger Häupter der Gaudi in Neuses ihre Aufwartung, auch weil sich die Gastgeber viel einfallen ließen, sagt Stier. Ein Festzug, die Prämierung von „Glatzenkönigen“ und die Aufnahme in den 1993 gegründeten „Fränkischen Glatzenclub Neuses am Berg“ wurden regelrecht zelebriert.
Bedingung für die Aufnahme in den Verein ist eine "echte Platte“ - keine kahl rasierte. Die Kahlstelle am Kopf muss mindestens so groß sein, wie die Handfläche der jeweiligen Weinprinzessin, lautet die Vorgabe. Etwa 140 Quadratzentimeter sind das Maß von der Stirn an. Es erfolgt eine kurze Taufe mit Wein; danach reibt der Präsident mit dem „Glatzenpoliertuch“ über die hohe Stirn. Das Tuch gilt als beliebtes Souvenir.
Zur Aufnahme in den Neuseser Glatzenclub wird zudem ein feierliches Gelöbnis verlangt. Dabei versprechen die Herren, zur Pflege ihrer Glatze zukünftig kein Haarwuchsmittel oder Haarwuchs fördernde Essenzen zu verwenden – außer dem Neuseser Glatzenwein.
Heinrich Stier gehört zu den Ausnahmen. Er schaffte es – trotz seiner Haare – den Kahlköpfen beizutreten. Denn jeder, der in der Weinlage „Neuseser Glatze“ einen Weinberg hat, darf auch im Klub dabei sein. Genaueres regelt das „Glatzenbuch“, in dem man – neben vielen Grußworten und Zeitungsartikeln – die Philosophie des Vereins findet. So sieht sich die Gemeinschaft ganz offiziell als „eine Vereinigung fröhlicher Gesellen, weltoffen, ohne Haarspaltereien und von freier fränkischer Natur“.
Glatzenclub sucht neue Mitglieder
Neue Glatzen wurden beim bisher letzten Weinfest 2019 getauft. 2020 musste die Gaudi aus Pandemiegründen ausfallen. Auch heuer sieht es nicht viel besser aus, was den Veranstaltern vom Glatzenclub Sorge bereitet. Der Großteil der Mitglieder, sagt Stier, sei schon etwas in die Jahre gekommen. Die urige Gruppe bräuchte dringend Belebung, sollen ihr außer den Haaren nicht auch noch die Mitglieder ausgehen.
Tradition müsse doch aufrecht erhalten werden, meint Stier. Er hofft, dass der in vielerlei Hinsicht ungewöhnliche Verein weiter existieren wird. Stier ist Optimist: „Glatzen haben keine Nachwuchssorgen“, zitiert der Winzer einen seiner Lieblingssätze. Zumindest in diesem Punkt dürfte er recht haben.