Nähen? Lisa Dörr hatte keine Ahnung davon. Sie machte gerade ihr Abitur und wusste noch nicht so recht, was sie danach anstellen sollte. Da stieß sie im Internet auf etwas, das spannend klang: Kleidung entwerfen und gestalten – Modedesign. „Blöd war bloß, dass ich noch nie etwas genäht hatte.“ Aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.
Die fliederfarbene Schlafanzughose, die sie 2010 mit Hilfe ihrer Tante anfertigte, war gut genug, dass Lisa für die Aufnahmeprüfung der Modefachschule in Sigmaringen zugelassen wurde. Die junge Frau nutzte ihre Chance. Heute, zehn Jahre später, schneidert sie Bräuten die traumhaftesten Roben auf den Leib. Aber nicht nur das: In ihrem Atelier, das sie ausgerechnet in der Corona-Zeit vergrößert hat, versammelt sie junge und jung gebliebene Frauen, die ebenfalls ihre kreative Ader ausleben wollen – mit Nadel, Stift, Wolle, Papier oder sonst irgendwie.
Ein echtes Prinzessinnenkleid
Mitten in der malerischen Altstadt des Winzerstädtchens Iphofen ist ein Kreativzentrum entstanden. Junge Mamas geben hier trendige Kurse, etwa in der Knüpftechnik Makramee oder in Handlettering – dekorativem Schreiben mit speziellen Stiften. Auch Näh- und Stickkurse gibt es, man kann Wohndeko basteln oder sich in autogenem Training versuchen. Die Themen wechseln, je nach Jahreszeit und Nachfrage. An der Fensterfront der Pfarrgasse 7 geht kaum einer einfach vorbei. Vor allem die weiblichen Passanten bleiben mit Staunen im Blick stehen: ein echtes Prinzessinnenkleid! Goldgelb, mit perlenbestickter Corsage und weitem Reifrock – haargenau wie das Kleid von Prinzessin Belle in Walt Disneys „Die Schöne und das Biest“.
Im Inneren des Ateliers hängen an hohen Stangen weitere Kleider wie aus dem Märchen, feine Schleier und Accessoires, ein Cocktailkleid aus Tüll und ein Brautdirndl. Es sind Maßanfertigungen für Frauen aus allen Teilen Frankens, von Nürnberg bis Bamberg, von Schweinfurt bis Würzburg.
Aus dem Nebenraum, zu dem ein gemauerter Bruchsteinbogen führt, dringen Scherengeklapper und Stimmengewirr. Hier sitzen vier junge Damen an einem riesigen Tisch, jede mit einem duftenden Kaffee oder Cappuccino vor sich. Trotz des räumlichen Abstands zueinander bilden sie eine spürbare Gemeinschaft. „Team-Treffen“, erklärt die 30-jährige Lisa Dörr, Chefin der Modemanufaktur Iphofen und staatlich anerkannte Modedesignerin und Maßschneiderin. „Wir besprechen, wer wann welchen Raum braucht.“
Räume sind flexibel nutzbar
Neben Lisa haben Katharina Glaab und Bianca Iff ihre Kalender vor sich ausgebreitet; auch Leonie Altenhöfer ist da, Lisas Auszubildende im Atelier. Die 24-Jährige näht gerade ein Nackenkissen in doppelter Herzform zusammen, ganz feine Stiche setzt sie dafür millimetergenau in den zarten Stoff. „Leider ist Jonna heute nicht da, unsere Finnin.“ Die 27-Jährige ist Damen- und Herrenschneiderin, arbeitet als Minijobblerin in Lisa Dörrs Manufaktur und bringt sich auch darüber hinaus gerne kreativ ein.
Katharina Glaab hatte schon immer ein Faible für schöne Schriften. Die 34-jährige Berufsschullehrerin hatte zahlreiche Handlettering-Kurse besucht. Nach der Geburt ihres ersten Kindes intensivierte sie ihr Hobby noch, gab schließlich selbst Seminare. „Ich wurde förmlich überrannt“, berichtet Katharina lachend. Ähnlich erging es Bianca Iff, ebenfalls 34. „Wenn meine beiden Kinder abends geschlafen haben, hab? ich zum Ausgleich einfach ein bisschen gebastelt, Traumfänger, Regenbögen, Schlüsselanhänger. Es wurde immer mehr und auch die Nachfrage nach Kinderzimmer-Deko und Makramee-Produkten stieg.“
Bianca Iff hatte ohnehin schon ein Nebengewerbe angemeldet, als Lisa Dörr „mit der Idee um die Ecke kam, dass wir einen Teil ihres Ateliers für Kreativ-Kurse nutzen könnten“, erzählt die Sozialversicherungsfachangestellte. Bianca Iff, die ihre Arbeiten mit dem Künstlernamen „Friedollina“ signiert, war ebenso begeistert von der Idee wie Katharina Glaab („von Kathi G.staltet“). Sie hatten schöne Räumlichkeiten für Kurse gefunden und für Lisa Dörr bedeuten die Mieteinnahmen zumindest ein kleines zusätzliches Einkommen; außerdem kann sie die drei großen Räume des Ateliers auf diese Weise besser ausnutzen. „Die Mädels zahlen nur die Stunden, in denen sie auch wirklich Kurse gegeben haben“, betont Lisa Dörr. „Sie sind da ganz flexibel und haben kein finanzielles Risiko. Das ist mir wichtig.“ Sie selbst hat allerdings sehr wohl ein Risiko auf sich genommen. Und das ausgerechnet im Corona-Jahr. Ob sie besonders mutig ist? Lisa Dörr lacht bei dieser Frage. „Eher nicht. Aber ich hatte ja schon ein bisschen Erfahrung mit der Selbstständigkeit.“ 2014 hatte sie in Kitzingen ihr erstes Geschäft eröffnet, im Industriegebiet. Einige Monate nach der Geburt ihres Sohnes eröffnete sie Anfang 2019 in ihrem Heimatort Iphofen neu; allerdings waren die Räumlichkeiten im Torhaus sehr beengt. „Ich saß da in meinem Nähzimmer – und es war einfach kein Platz, die Stoffe mal richtig auszubreiten. Frustrierend!“
„Wie mein zweites Wohnzimmer“
Als Lisa Dörr hörte, dass das Gewölbe des städtischen Dienstleistungszentrums neu vermietet werden sollte, vereinbarte sie einen Besichtigungstermin – „eigentlich nur, um die Sache abzuhaken, weil ich dachte, dass ich mir das sowieso nicht leisten kann“. Doch vor Ort verguckte sie sich in die geräumigen Zimmer. „Ich habe meine Kleider schon da hängen sehen.“ Sie arbeitete ein Betreiberkonzept aus, legte es dem Stadtrat vor – und dem gefielen die Ideen der Modemanufaktur-Chefin, die das Areal nach dem Motto „Von Iphöfern für Iphöfer“ mit Leben füllen wollte. So erhielt Lisa Dörr den Zuschlag. Im September öffnete sie die Türen in der Pfarrgasse 7.
„Katharina und ich kannten uns zwar schon von früher. Wieder getroffen haben wir uns aber durch die Kinder – auf dem Spielplatz“, erzählt die Iphöferin grinsend. „Kathi hat mir erzählt, dass sie gern Handlettering-Kurse geben würde, und ich habe ihr erzählt, dass ich einen Raum dafür hätte.“ Bianca Iff kam über einen Umweg durchs WorldWideWeb mit ins Team: über Ebay-Kleinanzeigen. „Dort habe ich gelesen, dass jemand in meiner Nähe Makramee-Kunst anbietet. Da habe ich einfach mal ?ne Mail geschrieben“, erinnert sich Lisa Dörr. „Witzig war, dass sich dann herausstellte: Bianca und ich kennen uns auch schon von früher. Ich wusste nur bisher nichts über ihr Hobby.“
Bianca Iff lacht. „Ich bin wahnsinnig gerne Mama, aber Ihr wisst ja, wie das ist“, sagt sie augenzwinkernd in die Runde: „Manchmal braucht man einfach einen Ausgleich.“ Wem das ebenso geht, der ist im „Kreativzentrum“ gerne gesehen. „Zusammen hat man einfach mehr Spaß. Und es gibt ja so viele coole Bastel-, Deko- und Handarbeitsideen!“, findet Lisa Dörr. Irgendwann „nach Corona“ würde sie gerne ein Kreativcafé in ihr Atelier integrieren. „Für mich ist das neue Domizil schon wie mein zweites Wohnzimmer. Ich liebe es, hier zu sein.“
Deshalb will sie auch nicht lange in Elternzeit gehen, wenn sie in Kürze ihr zweites Kind bekommt. Sie will das Kleine mit ins Atelier nehmen, wo es vielleicht vom leisen Summen der Nähmaschinen in den Schlaf gewiegt wird. „Und später werden wir schon ein Plätzchen für den Laufstall finden“, sagt Lisa und Katharina nickt grinsend. Auch sie ist zum zweiten Mal schwanger und will Kinder und Kurse gerne verbinden. Die beiden Frauen sind sicher: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.