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DETTELBACH/WÜRZBURG
Sprung in die Freiheit
Die neu erschienene Fluchtgeschichte Kuno Fiedlers ist das Dokument eines mutigen Lebens in finsterer Zeit.
Torsten Schleicher
 |  aktualisiert: 11.12.2019 19:34 Uhr

Am 19. September 1936, einem Samstag, steigt ein Mann über zwei Mauern des Landgerichtsgefängnisses in der Würzburger Ottostraße. Er landet auf dem Grundstück des benachbarten Kilianeums, läuft dann durch die Gassen der südlichen Altstadt und wird irgendwo im Stadtviertel Sanderau von einem Umzugstransporter mitgenommen.

Vier Tage später erreicht er das rettende Schweizer Ufer des Bodensees. Noch am selben Tag schlägt er sich nach Küsnacht am Zürichsee durch, klopft an eine Haustür und wird eingelassen, obwohl nur das Personal anwesend ist. Noch am selben Tag kehrt auch der Hausherr zurück: Es ist Thomas Mann.

Der Flüchtling aus dem Würzburger Gefängnis ist dem weltberühmten Schriftsteller nicht nur bekannt, beide Männer sind befreundet. Der damals 41-jährige evangelische Theologe Kuno Fiedler (1895 bis 1973) ist seit langem ein Bewunderer Thomas Manns. Als 20-jähriger Student hat er 1915 dem Schriftsteller zum 40. Geburtstag gratuliert, drei Jahre später darf er als junger Vikar in München die Haustaufe von Manns Tochter Elisabeth vornehmen.

„Das war ein Mann, der an seinen

Überzeugungen festhielt.“

Hans-Ludwig Oertel über Kuno Fiedler

Der Kontakt Kuno Fiedlers zu Thomas Mann und dessen Frau Katia reißt danach nicht ab, auch nicht, als Mann nach der Machtergreifung der Nazis im Schweizer Exil ist und in Deutschland zu den Verfemten gehört. Fiedler lebt nach 1933 als freier Journalist im unterfränkischen Dettingen am Main und führt in dieser Zeit einen intensiven Briefwechsel mit Thomas Mann.

Dazu kommen Besuche bei den Manns in Küsnacht, zuletzt im Frühjahr 1936. Der enge Kontakt bleibt offenbar auch der Gestapo nicht verborgen: Am 2. September 1936 durchsuchen Beamte die Wohnung in Dettingen. Der Würzburger Gestapo-Chef Josef Gerum, wegen seiner Rücksichtslosigkeit und Gewalttätigkeit gefürchtet, nimmt persönlich die Verhaftung Fiedlers vor, der als Untersuchungshäftling ins Landgerichtsgefängnis in der Ottostraße eingeliefert wird – wegen des „Verdachts der Vorbereitung zum Hochverrat“.

Dass dem schmächtigen, kränklichen Mann nur 17 Tage nach der Verhaftung die Flucht aus dem Gefängnis gelingt, grenzt an ein Wunder. Fiedler hatte einen Hofgang und die Routine des Wachpersonals genutzt, um über die zwei Mauern des Gefängnisgeländes zu steigen. Die zwei Wochen in Würzburger Untersuchungshaft waren für ihn ein so ein prägendes Erlebnis, dass er im Herbst 1937 einen Bericht darüber schrieb. Der Text erschien 1973 allerdings nur in kleiner Auflage in der bibliophilen Herbert-Post-Presse in München.

Im Josef-Röll-Verlag (Dettelbach) ist Fiedlers Bericht „Über Mauern hinweg“ mit dem Untertitel „Die Geschichte einer Flucht“ jetzt wieder erschienen. Was die Neuauflage – neben dem Bericht Fiedlers – so wertvoll macht, sind die kommentierenden Beiträge der Herausgeber über die Hintergründe der Flucht und die Editionsgeschichte des Textes.

Neben Klaus Bäumler (München) hat der Marktbreiter Altphilologe Hans-Ludwig Oertel an der Herausgabe mitgearbeitet und unter anderem den genauen Fluchtweg Fiedlers recherchiert. Vor drei Jahren hatte er ein Exemplar der unkommentierten Erstausgabe von Fiedlers Bericht „in die Hand gedrückt“ bekommen und war fasziniert von der Person Fiedlers: „Das war ein Mann, der an seinen Überzeugungen festhielt.“

Nach einem Vortrag von Mitherausgeber Bäumler über Kuno Fiedler nahm er Kontakt mit dem Münchner Wissenschaftler auf, es entstand der Plan zur Neuherausgabe des Textes. Anderthalb Jahre hat Oertel zur Fluchtgeschichte Fiedlers recherchiert; im Frühjahr 2013 war das Manuskript fertig. Aus der Neuherausgabe des Textes ergeben sich so auch interessante Aspekte für die Thomas-Mann-Forschung, ist sich Oertel sicher. Schließlich habe der Schriftsteller Gedanken Kuno Fiedlers in seinem Werk berücksichtigt. Das Fluchtkapitel in der 1937 verfassten Autobiografie Fiedlers verarbeitete zudem Manns älteste Tochter Erika in ihrem Buch „Wenn die Lichter ausgehen“ in der Erzählung „Leidensgenossen“.

Der Text von „Über Mauern hinweg“ ist mit Fotos und Faksimiles ergänzt worden, Fußnoten geben Hinweise auf weiterführende Literatur. Das gut 100 Seiten starke Buch ist nicht nur die spannende Story einer Flucht, es ist auch das Dokument eines mutigen Lebens in finsterer Zeit. Für die Geschichte des unterfränkischen Widerstands gegen das NS-Regime ist die sorgfältig kommentierte Neuherausgabe von Kuno Fiedlers Bericht zweifellos eine Bereicherung.

Das Buch „Über Mauern hinweg“ ist Verlag J. H. Röll Dettelbach erschienen. 111 Seiten, Abbildungen, Preis 29,90 Euro. ISBN: 978-3-89754-435-2.

 
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