Eigentlich sei er kein Komponist, meint Uwe Ungerer bescheiden – und das sagt einer, der schon zwei CDs mit seinen Kompositionen veröffentlicht hat, die neueste am 8. April. Ungerer ist hierzulande bekannt als Chorleiter von "Chorason" und "Young Harmony" in Mainstockheim. Und wie es fast allen Musikern ging, wurde auch er in den vergangenen zwei Jahren massiv von der Pandemie getroffen.
Proben waren unmöglich. Aber Ungerer drehte kurzerhand in dieser Zeit den Film "Chor versus Corona", in dem er das immaterielle Kulturerbe Chormusik dokumentierte, auf dem Videokanal Youtube im Internet zu sehen. Als danach wieder Pause war, wurde das Haus aufgeräumt. Aber nachdem jedes Teil im Haus mindestens zweimal bewegt worden war, musste eine neue Idee her. Ungerer war vom Lockdown total frustriert: "Ich hatte quasi Berufsverbot." Daraufhin nahm er sich im November 2021 das früher für seinen Chor komponierte Musical "Oliver Twist Now!" vor und fantasierte ein bisschen vor sich hin. "Ich setzte mich ans Klavier, nur so zum Spaß", erinnert er sich.
Ungerer hatte noch nie etwas Großes komponiert. Mal Stücke für den Chor mit Bandbegleitung, mal Kleineres für den Kompositionswettbewerb der Jeunesses Musicales, was auch gleich prämiert wurde. Eine einzige CD gab es bisher von ihm: Best-of Keyboardworks, 2012 bei dem kleinen Label Timezone erschienen.
Doch plötzlich entstanden fast wie von selbst seine elf sinfonischen Bilder über das Straßenkind "Oliver Twist" aus dem gleichnamigen Roman von Charles Dickens. Nach drei Monaten war er zunächst einmal fertig. Mit der Musiknotationssoftware Sibelius setzte er ein großes romantisches Orchester ein, wie es sonst Anton Bruckner oder Richard Strauss verwendeten, dazu ein umfangreiches Schlagwerk und ein Klavier.
Ungerer ist Klassikfan, liebt Filmmusik, besonders Steven Sondheim, dessen komplexe Musik für ihn immer wieder eine Inspiration ist. Die "Symphonic Pictures" sollen wie Programmmusik für sich stehen und das Leben und die Gefühle des Straßenkindes "Oliver Twist" in unserer heutigen Zeit illustrieren. Man merkt der CD an, wie wichtig es Ungerer ist, auf die Missstände in diesem Bereich hinzuweisen. Klänge wie in der Filmmusik sind es, die Musicalnähe wird nicht geleugnet, gut anzuhören sind sie, eingängig. Immer wieder aber werden ruhige Passagen aufgebrochen, der Zuhörer wachgerüttelt, die Musik soll fordernd sein, keine schöne heile Welt abbilden.
Ein Orchester aus dem digitalen Archiv
Die Arbeit für diese "Symphonic Pictures" ging nach der Rohfassung mit Tonmeister Stefan Kammerer weiter, der die gelieferten Dateien zu einem harmonisch klingenden Orchester zusammenfügte. Jedes einzelne Instrument, jede einzelne Tonspur wurde dabei digital mit Hilfe einer professionellen Software eingespielt. Kammerer arbeitete mit der Vienna Symphonic Library, Dateien aus einem der bekanntesten Studios, die virtuelle Klänge herstellen. Hierbei konnte er aus verschiedenen Stilen auswählen. Eine Geige kann dann barock oder auch romantisch klingen.
Dadurch erreichte man eine Lebendigkeit, die man bei einem virtuellen Orchester sonst nicht vermuten würde. Das ist heutzutage durchaus üblich; in der Werbung wird fast nur noch digital gearbeitet. Zusätzlich war das im Lockdown die einzige Möglichkeit gewesen, die Stücke überhaupt mit einem großen Orchester wiederzugeben. Unzählige Mails gingen zwischen Kammerer und Ungerer hin und her, um das voluminöse, 200-seitige Notenmaterial zur Vollendung zu bringen, bis beide Seiten mit dem Ergebnis zufrieden waren. Auch mit den Details: Begeistert erzählt Uwe Ungerer, dass der Tonmeister beim tiefen Fagott sogar das leise Klicken einer Klappe eingebaut hat, welches in einem wirklichen Orchester beim Spielen der Blasinstrumente oft zu hören ist.
Langer Produktionsprozess bis zur fertigen CD
Vor dem Pressen auf CD musste das Werk gemastert werden. Das ist der Prozess, bei dem der Sound endgültig optimiert wird. Komponist und Tonmeister verschickten das Material und hatten das Glück, dass sich Andreas Balaskas dafür interessierte, einer, der sonst für Hannes Ringelstetter, Marc Forster, Beatrice Egli und andere arbeitet.
Der zweite Glücksgriff ergab sich, als nach nur wenigen Mails an verschiedene Musikverlage Ars Produktion von Produzentin Annette Schumacher antwortete. Vielleicht, weil Ungerer auf einer ihrer Chor-CDs bereits mit einem Arrangement vertreten war, sagt der Komponist selbst. Vielleicht aber auch, weil das Material einfach gut ist.
Dieses exquisite Klassiklabel hat schon mehrmals mit seinen Produktionen den Echo Klassik sowie den International Classic Music Award gewonnen und ist in der Branche für seine hohe Aufnahmequalität hochgeschätzt.
Mehr als 5000 Euro flossen in die Produktion
Ungerer gab seine Rechte in einem Bandübernahmevertrag ab, erhielt dafür 300 der CDs und kann nun in Ruhe zusehen, wie Ars Produktion seine CD vertreibt. Helfend kam hinzu, dass das Werk in der Pandemie mit 5000 Euro durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, die Gema und Neustart Kultur gefördert werden konnte. Dadurch konnten Tonmeister, Masterer und Ars Produktion bezahlt werden. Einen kleinen Teil steuerte Ungerer privat noch bei.
Ehefrau Dagmar Ungerer-Brams, Musikwissenschaftlerin und Multimedia-Designerin, hat die CD mitsamt dem Booklet gestaltet. Die abstrakten Bilder hierzu stammen aus den vom Tonmeister bearbeiteten Dateien. Am 8. April erscheint nun die CD und kann bei gängigen Verkaufsstellen erworben werden. Auch die großen Streaming-Anbieter haben sie in ihr Programm aufgenommen.
Dennoch bleibt Uwe Ungerer bescheiden und träumt nicht vom Durchbruch, vielleicht eher davon, dass sich die eine oder andere Tür öffnen könnte. Aber wenn es sich ergeben würde, seine Symphonic Pictures mit einem großen Orchester bei einem Konzert live zu erleben, dann würde er sich schon mächtig freuen.
Oliver Twist Now
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version war die falsche Mail-Adresse angeben. Sie wurde mittlerweile berichtigt.