Ein Arzt hat mal zu ihm gesagt, er könne bis zu acht Bandscheiben-Operationen machen – jeden Tag. „Der Doktor hat das stolz erzählt: acht Stück!“ Mark Oberländer erinnert sich daran, dass der Arzt ihn mit dieser Zahl beeindruckte. „Aber irgendwie hat mich der Satz auch irritiert.“ Heute, viele Jahre später, weiß der 48-Jährige, warum: „Weil mit einer OP das ganze Leid oft erst so richtig anfängt.“
Oberländer ist inzwischen sicher: Es gibt nur drei gute Gründe, sich operieren zu lassen: „Wochenlang unaushaltbare Schmerzen, durch die man nicht mehr gehen oder stehen kann, sich verschlimmernde Lähmungserscheinungen und das sogenannte Kauda-Syndrom“. Ansonsten gebe es immer bessere Möglichkeiten, das Leid zu lindern, als durchs Messer.
OPs nur um des Geldes willen?
Wenn man den Mann aus Buchbrunn bei Kitzingen fragt, wie er zu dieser These kommt, sagt er: „Meine über 20-jährige Leidensgeschichte war der Antrieb für mich, mich umfangreich zu informieren, Fachbücher zu wälzen, Fachleute zu befragen. Ich bin dabei zu der Erkenntnis gekommen: 90 Prozent aller Wirbelsäulen-OPs sind unnötig. Viele OPs werden nur um des Geldes willen gemacht.“ Und manche Reha-Maßnahmen setzten an der falschen Stelle an.
Oberländers „Kreuz mit dem Kreuz“ fing früh an: „Ich hatte schon als Kind ein Hohlkreuz.“ 1999 – der Speditionskaufmann war damals 25 Jahre alt und arbeitete als Lagerleiter – fuhr ihm „ein Blitz“ in den unteren Rücken: „Ich konnte nur noch vornüber gebeugt laufen und hatte Lähmungserscheinungen“, beschreibt er zwei akute Bandscheibenvorfälle.
„Aber ich war drahtig. Nach sechs Wochen war ich wieder auf Arbeit.“ In den Monaten danach bekam Oberländer immer wieder Hexenschüsse, immer wieder Lähmungen, immer wieder ein Kribbeln im Bein. „Der Arzt hat gesagt: Wenn du so weitermachst, landest du im Rollstuhl.“ Oberländer wechselte den Job. „Schmerzen habe ich mit Medikamenten gestoppt.“
2004, nachdem die jüngste seiner drei Töchter zur Welt gekommen war, bekam er von seinem Arbeitgeber ein Angebot: Als Leiter eines Teil-Lagers lockten geregelte Arbeitszeit – keine Schichtdienste mehr – und mehr Geld. Oberländer nahm an. „Das habe ich bitterböse bereut.“ Die Schmerzen wurden stärker als zuvor. „Mir hat die Arbeit viel Spaß gemacht, also dachte ich, ich lasse mich operieren und danach bin ich wieder voll einsatzfähig.“ Mit 33 Jahren ließ er im Krankenhaus eine Nukleoplastie vornehmen: einen minimalinvasiven Eingriff an den Bandscheiben. „Noch im Dämmerschlaf habe ich einen furchtbaren Schmerz gespürt. Ab diesem Zeitpunkt ging es rapide bergab.“
Oberländer wechselte vom Lager zurück ins Büro. „Aber immer wieder bekam ich massive Schmerzen. Ich bekämpfte sie mit Medikamenten und Spritzen. Man will ja funktionieren, für Familie und Arbeitgeber…“
Nachdem das Unternehmen in die Insolvenz ging, fand der Familienvater einen neuen Arbeitgeber, „wieder fuhr ich Stapler, wieder hob ich viel“. Irgendwann konnte er nicht mehr, suchte sich woanders einen Job, fasste dort aber nicht Fuß. „Nach sechs Tagen hatte ich solche Schmerzen, dass nix mehr ging. Die haben mir dann sofort gekündigt. Das war das erste Mal, dass ich mir so richtig wertlos vorkam.“
Nach einigen Wochen war Oberländer so weit wieder hergestellt, dass er einen neuen Arbeitsanlauf startete – „ich wollte nie der Solidargemeinschaft auf der Tasche liegen!“. Doch nach drei Monaten kündigte er selbst, „ich habe es einfach nicht gepackt.“
Mental und körperlich ganz unten
Den nächsten Versuch wagte er als Schichtleiter im Versand einer Kartonagen-Fabrik. Dann kam der 4. Oktober 2011, „der Supergau“, wie er sagt. „Erst hat mir die Wade so wehgetan, dass ich dachte, die platzt. Kurz darauf habe ich unterm rechten Fuß nichts mehr gespürt und konnte das Wasser nicht mehr halten. Die Diagnose in der Uni-Klinik: Kauda-Syndrom.“ In einer Not-OP linderten die Ärzte den Druck auf die Cauda equina, eine anatomische Struktur im Wirbelkanal. „Ich bin ihnen heute noch dankbar, dass sie das so gut hingebracht haben. Diese OP war die einzige, die gut war.“
Doch Mark Oberländer wollte zu schnell zu viel. Nach zwölf Wochen stand er wieder auf der Arbeit. 14 Tage später erneut Schmerzen. Wieder Krankenhaus, wieder Arbeit. „Im Mai 2012 bin ich zur Chefin gegangen. Sie war topp. Sie hätte mich behalten, sogar als Leiter, aber ich wusste, dass ich keine andere Chance hatte, als endlich einen Gang runterzuschalten, den Körper wirklich wieder belastbar zu machen.“
Mark Oberländer sagt, er sei inzwischen auch psychisch angeschlagen gewesen, „all die Wechsel, all die Misserfolge“. Er absolvierte eine ambulante Schmerztherapie, „die nichts brachte“, dann eine Umschulung zum IT-System-Kaufmann. Als solcher fing er 2016 bei einer Brauerei an. Nach einem halbem Jahr war mal keiner da zum Heben der Kisten. Oberländer sprang ein, „und ruckzuck war die Kacke wieder am Dampfen“. Es folgte ein erneuter Jobwechsel. Und noch einer. „Jeden Tag stärkste Schmerzmittel, Spritzen und andere Medikamente: So schaffte ich dreieinhalb Jahre.“
Mitte August 2019 der nächste Bandscheibenvorfall. Seine Ärztin riet zur OP. Oberländer stimmte zu. Doch danach ging es ihm richtig schlecht, er brauchte die stärksten Schmerzmittel, noch während der Reha versagten ihm die Beine. Ein Dreivierteljahr lag er quasi nur im Bett. „Ich hatte nie verstanden, wie Leute sich das Leben nehmen können. Aber auf einmal dachte ich auch, wie schön es wäre, den Schmerz einfach zu beenden. Wenn ich meine Frau und meine Kinder nicht gehabt hätte…“
Seine Rettung, sagt Mark Oberländer, war eine stationäre Schmerztherapie. „Da habe ich neue Hoffnung geschöpft. Ärzte und Physios haben sich echt um einen gekümmert.“
Noch im Liegen begann der Patient, ein Buch zu schreiben. „Ich wollte, dass mein Leiden einen Sinn hat: den, dass solche Schmerzen anderen Menschen erspart werden.“ Er studierte jede Menge Fachliteratur über Bandscheibenvorfälle. Den Vorschlag, die Wirbelsäule zu versteifen und einen Stromimpulsgeber an der Rückenmarkshaut zu implantieren, lehnte er daraufhin endgültig ab: „Die Chance auf Besserung beträgt gerade mal 30 Prozent, aber die OP kostet 20.000 Euro. Sie bringt also vor allem dem Krankenhaus was.“ Zudem fand er heraus, „dass ich ganz lang Übungen gemacht hatte, die für eine Heilung völlig kontraproduktiv waren“.
All seine Erkenntnisse fasste Oberländer in einem 520-Seiten-Ratgeber zusammen. „Man darf nicht nur Symptome bekämpfen, sondern muss die Ursache finden. Das Buch soll erreichen, dass die Leute hinterfragen, ob eine OP sinnvoll ist.“
Aktuell ist Oberländer dabei, eine Petition an die Regierung zu formulieren, in der es um Schulmobiliar geht. Oft seien die Tische viel zu niedrig und die Stühle reine „Foltergeräte“. Für Kinder und Jugendliche wünscht sich Oberländer auch ein Schulfach, das ihnen ein solides Grundwissen über ihren Körper und die gängigen „Volksleiden“ vermittelt. Er selbst könne nur noch Schadensbegrenzung betreiben, sagt er. Dazu arbeite er hart an seinem Körper, aber mittlerweile „ohne falschen Ehrgeiz“. Kürzlich habe er es geschafft, am Stück mehrere Kilometer Rad zu fahren. „Das baut mich auf!“
Und falls er irgendwann den Arzt wieder trifft, der einst so stolz auf seine acht Bandscheiben-OPs pro Tag war, will er ihm sagen: „Mein Held wären Sie, wenn sie sieben davon verhindern würden!“