„Was damals in unserem Land, in unserer Stadt geschah, erfüllt uns bis heute mit Scham und Trauer.“ Mit diesen Worten gedachte Oberbürgermeister Siegfried Müller am Freitagabend der jüdischen Mitbürger, die während der Nazi-Herrschaft misshandelt, entrechtet und getötet wurden. Anlässlich des 80. Jahrestages der Pogromnacht appellierte er an alle Bürger, die Geschehnisse von damals und die Lehren aus der Vergangenheit nicht zu vergessen.
Gewalt und Wilkür
In Anwesenheit zahlreicher Bürger erinnerte der Oberbürgermeister bei der Gedenkstunde vor der Alten Synagoge an das große Leid, das jüdischen Bürgern während der NS-Zeit angetan wurde. Auch in Kitzingen seien sie der Gewalt und Willkür von Staat und Mitbürgern schutzlos ausgeliefert gewesen: In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden die Judenschule sowie alle jüdischen Wohnungen und Geschäfte verwüstet.
Jüdische Mitbürger wurden misshandelt, gedemütigt, zur brennenden Synagoge gebracht, in einer Massenverhaftung in das Bezirksgefängnis in der Ritterstraße abgeführt und viele von ihnen weiter in das KZ Dachau deportiert.
Bedrückende Aktualität
80 Jahre danach sei das Gedenken an diese Geschehnisse von „bedrückender Aktualität“, so Müller. Nicht nur der Antisemitismus habe spürbar zugenommen. „Es hat ich etwas verändert in unserem Land. Hetze und Hass greifen nicht nur im Internet um sich“, stellte er fest.
Rechtspopulisten, Antisemiten und Rassisten versuchten, „einen Keil in die Gesellschaft zu treiben“. Mit dem Einzug der AfD in die Parlamente habe sich auch das politische Klima verändert: Führende AfD-Parteimitglieder versuchten die Gräueltaten des NS-Regimes zu verharmlosen und vergessen zu machen, wie etwa Björn Höcke, der eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ proklamiere.
Gegen Antisemitismus und Rassismus
Der Oberbürgermeister forderte alle Bürger auf, die Erinnerung an die Vergangenheit wach zu halten und entschieden gegen jede Form von Antisemitismus und Rassismus aufzutreten. Den gleichen Appell richtete auch Hochschulpfarrer Burkhard Hose bei seinem anschließenden Vortrag in der Alten Synagoge an die Zuhörer. Der katholische Priester hat sich intensiv mit der NS-Zeit auseinandergesetzt und deren öffentliche Aufarbeitung zur Aufgabe gemacht. Auch bei aktuellen Themen scheut er nicht davor zurück, seine Meinung zu sagen. Deshalb hatte ihn der Förderverein ehemalige Synagoge Kitzingen als Redner eingeladen.
Vom Mob aus dem Haus gezerrt
Als erschütterndes Beispiel für die Verbrechen des Nazi-Regimes präsentierte Hose ein Foto des Würzburger Weinhändlers Ernst Lebermann. In der Pogromnacht 1938 wurde dieser von einem wilden Mob auf brutale Weise aus seinem Haus gezerrt und so schwer misshandelt, dass er einen Tag später starb. So wie ihm sei es unzähligen anderen jüdischen Mitbürgern in Deutschland ergangen, führte der Hochschulpfarrer den Zuhörern vor Augen.
Nicht irgendeine anonyme Masse sei es gewesen, die der Gewalt und dem Unrecht ausgesetzt war. Es seien einzelne Menschen gewesen, Nachbarn und Bekannte, die dem Nazi-Regime und seinen Helfershelfern zum Opfer fielen.
Mahnung für die heutige Zeit
In Würzburg seien die jüdischen Bürger am „hellichten Tag“ in langen Menschenzügen mitten durch die Stadt zur Deportation abgeführt worden, schilderte Hose die damalige Situation. Es sei „unmöglich“ gewesen, „nicht zu sehen, was damals passiert ist“. Das System der Vernichtung habe funktioniert, „weil der Angst und dem Schweigen Raum gegeben wurde“ und „weil weg geschaut wurde“. Dies sei eine Mahnung für die heutige Zeit: „Was erst nur in Worten daher kommt, das Herabwürdigen von Menschengruppen und Menschenfeindlichkeit, kann irgendwann zur Tat werden.“
„Der Holocaust war kein Bild an der Wand, sondern ein Fenster, durch das Dinge sichtbar wurden, die normalerweise unentdeckt bleiben“, zitierte Hose den jüdischen Philosophen und Soziologen Zygmunt Bauman. Die Wahrheit dieses Satzes sei ihm auch beim Besuch der ungarischen Jüdin Eva Fahidi bewusst geworden, die den Holocaust überlebt und in Würzburg bei einer Veranstaltung vor jungen Menschen gesprochen habe. „Gleichgültigkeit ist wie Gift“, habe sie ihren Zuhörern ans Herz gelegt. „Was damals passiert ist, kann sich wiederholen.“
Junge Leute engagieren sich wieder politisch
Der Blick auf den 9. November 1938 müsse auch ein Blick in die Gegenwart sein, fasste der Geistliche seine Ausführungen zusammen. Es sei bedenklich, wenn Parteimitglieder der AfD eine „erinnerungspolitische Wende“ forderten oder das Holocaust Mahnmal in Berlin als ein „Denkmal der Schande“ bezeichneten.
Als Reaktion auf die neuen politischen und gesellschaftlichen Strömungen würden sich aber auch gerade junge Leuten wieder verstärkt politisch engagieren, stellte er erfreut fest.
Zum Abschluss zitierte er mahnende Worte aus einer Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog: „Nicht abwarten, ob die Katastrophe vielleicht ausbleibt, sondern verhindern, dass sie überhaupt die Chance bekommt, einzutreten.“
Meierott komponierte eigens ein Stück zum 80 Jahrestag
Musikalisch umrahmt wurde das Gedenken an die Reichspogromnacht von dem Geiger Florian Meierott und der Pianistin Tatjana Hubert. Neben der Titelmelodie aus dem Film „Schindler?s Liste“ spielten sie das Musikstück „Wo die Sprache endet“, das Meierott zum 80. Jahrestag der Novemberpogrome komponiert hat. Im Gedenken an die Opfer des Holocaust beteten die Teilnehmer der Gedenkveranstaltung im Gebetsraum der ehemaligen Synagoge auch den Kaddisch, das jüdische Totengebet, und das christliche Vater unser.