Kaum hat sie die Arme unten, muss Elisabeth Wittenborn sie schon wieder heben: Alle paar Minuten kommt jemand vorbei, um sie herzlich zu umarmen. Keiner will es versäumen, der Seniorin zu ihrem großen Tag zu gratulieren: Elisabeth Wittenborn feiert ihren 100. Geburtstag.
Einen solchen Termin hat Oberbürgermeister Siegfried Müller auch nicht alle Tage. Vollbepackt kommt er zur Tür herein. Gratulieren kann er aber nicht gleich: „Ich muss noch was holen“, sagt er, stellt die Präsente ab und zieht wieder los. Eine Hundertjährige, die bekommt mehr offizielle Geschenke, als ein Oberbürgermeister auf einmal tragen kann.
Elisabeth Wittenborn kennt Siegfried Müller schon. „Sie waren beim 99. schon da“, sagt sie, als er ihr die Hand schüttelt. Blumen bekommt sie von der Stadt, und einen Präsentkorb. Von der Landrätin überbringt Müller eine Orchidee und „die besten Grüße, auch von ihr ganz persönlich“. Und dann hat er auch noch das Geschenk dabei, das es nur für Hundertjährige gibt: eine Urkunde vom Ministerpräsidenten mit einer persönlichen Widmung und der Patrona Bavariae in Silber.
Schon vor der offiziellen Gratulation am Mittwochnachmittag hat Elisabeth Wittenborn viele Hände geschüttelt, wurde von schier unzähligen Menschen umarmt. Vorsichtig gingen sie mit der schmalen Frau um: „Ich drück' nur ganz leicht“, sagten fast alle – und mancher war überrascht von der Kraft, mit der die Hundertjährige zurückdrückte.
Mitbewohner im Haus der Pflege, Pflegepersonal, Heimleitung, Bekannte – alle wünschten der Jubilarin Glück, trugen Gedichte vor, die sie extra für die Jubilarin geschrieben hatten, sangen Lieder. Hundert rote Herzen hatten sie ausgeschnitten, jeder hatte darauf unterschrieben. Es gab eine Torte, ebenfalls mit einem roten Herzen drauf. „Das ganze Haus hat gratuliert“, freut sie sich Elisabeth Wittenborn.
Am Nachmittag kam die Familie, und auch da hatte jeder ein Präsent dabei. Selbst die kleinen Urenkelinnen überreichten Schokoladenkekse. Süßigkeiten und Schokolade sind Geschenke, die bei Elisabeth Wittenborn gut ankommen: „Klar nasch' ich“, sagt sie und lacht ihr ansteckendes Lachen.
Wer 100 Jahre alt ist, hat viel erlebt. Lustiges und Trauriges, Schönes und Tragisches. Und so hätte Elisabeth Wittenborn eigentlich viel zu erzählen. In der Zeitung muss es aber nicht stehen, findet sie, winkt beim Nachbohren der Reporterin öfter mal ab, quittiert die Fragen auch schon mal mit dem Satz: „Neugierig is' sie, die Frau von der Zeitung.“ Sie lacht dabei und die Augen, die sonst manchmal etwas trübe scheinen, blitzen in diesen Momenten. Immer wieder kommen zwischendurch trockene, humorvolle Bemerkungen, mit denen sie die Unterhaltung würzt. Entsprechend fällt die Antwort auf die Frage nach der Anzahl der Enkel, Urenkel und Ururenkel aus: „Ach, einen ganzen Haufen.“
Eine große Familie
So leicht ist die Frage auch nicht zu beantworten, denn selbst die Enkel müssen länger nachdenken, debattieren und zählen mit den Fingern nach, bis sie endlich keinen mehr vergessen haben. Elisabeth Wittenborn hat zwei Töchter, fünf Enkel, zehn Urenkel und neun Ururenkel.
Sie wurde am 22. Oktober 1914 in Ostpreußen geboren und hatte als älteste noch drei jüngere Geschwister. Es gab viel zu tun: „Die Mutter ging arbeiten, ich habe die Kinder versorgt“, erzählt sie. 1945 musste sie mit ihrer Tochter flüchten. Ihren ersten Mann, den sie mit 19 geheiratet hatte, hatte sie da schon verloren. Er war 1944 im Krieg gefallen.
Nach längerer Flucht kam sie nach Bayern, wurde zunächst in Scheinfeld sesshaft. Wie in Ostpreußen arbeitete sie auch dort zunächst auf einem Bauernhof, später in einer Fabrik. Von Scheinfeld aus zog die Familie nach Reutlingen, dann nach Iphofen, wo Elisabeth Wittenborn 30 Jahre lang lebte. Vor drei Jahren zog sie ins Haus der Pflege nach Sickershausen, ist mittlerweile die älteste Bewohnerin dort.
Elisabeth Wittenborn musste in all den Jahren viele Schicksalsschläge hinnehmen. So verlor sie nach ihrem ersten Ehemann auch den zweiten, der bei einem tragischen Unfall starb. Sie heiratete nochmals, musste nach vielen gemeinsamen Jahren aber auch ihren dritten Gatten zu Grabe tragen. Auch eine ihrer beiden Töchter ist bereits gestorben.
Klar macht auch die Gesundheit jetzt nicht immer ganz so mit, wie es sich die Jubilarin wünschen würde. Fast wäre die große Party ins Wasser gefallen, weil sie noch ins Krankenhaus musste. Nähen und Stricken, ihre Hobbys von früher, kann sie nicht mehr ausüben – die Augen und die Schulter bereiten Probleme. „Früher hab ich für alle gestrickt, Pullis, Socken, Westen“, erzählt sie.
Dass der Kopf noch fit ist, beweist sie nicht nur mit ihren schlagfertigen Antworten. So überlegte sie sich mit 98, einen Brief an die Kanzlerin zu schreiben: Die soll sich für die Abschaffung der Zeitumstellung einsetzen. Und auch heute noch verfolgt sie das weltpolitische Geschehen mit großem Interesse. Wer sie sieht, ist erstaunt darüber, wie fit jemand mit 100 Jahren sein kann. Elisabeth Wittenborn selbst drückt es pragmatisch aus: „Ich bin zufrieden.“