Er hatte die Idee dazu – und die hat sich längst in ganz Deutschland bewährt. Die Notfallseelsorge ist aus dem Leben der Einsatzkräfte und der Betroffenen nicht mehr wegzudenken. „Ein bisschen stolz bin ich schon“, sagt Hanjo von Wietersheim. Kann er auch sein.
Frage: Können Sie sich noch an den Beginn der Notfallseelsorge erinnern?
Hanjo von Wietersheim: Ich war damals in der Ausbildung zum Pfarrer und ehrenamtlich in der Feuerwehr tätig. Wir wurden zu einem Suizid gerufen, eine Frau hatte sich getötet. Polizisten fragten, wer mitkommt, um den Angehörigen die Nachricht zu überbringen. Und alle haben mich angeschaut.
Warum?
von Wietersheim: Allen war klar: Das ist eine Aufgabe für einen Seelsorger. Nur: Die Ortsseelsorger konnten schon damals nicht immer erreichbar sein. Und jetzt, rund 30 Jahre später, können sie es erst recht nicht.
Weil?
von Wietersheim: Weil auch Pfarrer Urlaub machen, weil sie nicht 24 Stunden abrufbar sein können. Die Personalsituation in der Kirche hat diese Entwicklung noch forciert. Aber ich war und bin der Meinung, dass Kirche immer erreichbar sein muss. Also habe ich mir überlegt, wie wir verlässliche Strukturen schaffen können. Unter Einbeziehung ehrenamtlicher Kräfte, zum Beispiel aus Feuerwehr und Rettungsdienst.
Und die Kirche war begeistert?
von Wietersheim (lacht): Ganz und gar nicht. Die Herangehensweise war zu unterschiedlich. Ein Pfarrer hat sogar gemeint, organisierte Seelsorge sei ein Werk des Teufels. Aber das ist mehr als 30 Jahre her.
Was hat sich verändert?
von Wietersheim: Wir werden mittlerweile als Aushängeschild für die Kirche betrachtet. Klar, wir zeigen in Brennpunkten und Krisen Präsenz.
Und das deutschlandweit. Ihre Idee ist gewachsen.
von Wietersheim: Ja, die Notfallseelsorge ist mittlerweile flächendeckend präsent. Die Ausbildung ist überall die gleiche. Die Strukturen sind gefestigt.
Sie arbeiten eng mit der so genannten Blaulichtfamilie zusammen.
von Wietersheim: Vor 15 Jahren ist im Landkreis Kitzingen die Arbeitsgemeinschaft Psychosoziale Notfallversorgung gegründet worden. Feuerwehr, BRK, JUH, THW, der Landkreis Kitzingen und die Polizei sind Mitglieder. Die Zusammenarbeit klappt sehr gut.
Aus wie vielen Mitgliedern besteht die Psychosoziale Notfallversorgung im Landkreis Kitzingen?
von Wietersheim: Derzeit sind es 26, davon sind fünf noch in der Ausbildung. Es sind hauptamtliche Seelsorgerinnen und Seelsorger und ehrenamtliche Kräfte dabei. Damit sind wir gut aufgestellt und können sogar in Nachbarlandkreisen aushelfen. Bei den Attentaten in Würzburg waren wir vor Ort, kürzlich auch bei der Flut in Rheinland-Pfalz. Wir begleiten Einsatzkräfte und betreuen Betroffene.
Die Mitarbeiter müssen auch Todesnachrichten überbringen?
von Wietersheim: Immer wieder. Wobei die eigentliche Nachricht von einem Polizisten überbracht wird. Ein Team von uns ist mit dabei. Im Vorfeld werden möglichst viele Informationen gesammelt. Was ist passiert? Wo ist der Verstorbene? Kann man Abschied nehmen? Wer wohnt da eigentlich im Haus? Es gibt eine Struktur, bis zu dem Moment, in dem die Nachricht überbracht ist. Danach ist es jedes Mal anders. Wir wissen im Vorfeld nie, wie die Menschen reagieren.
Kann man lernen, mit diesen Situationen umzugehen?
von Wietersheim: Es ist auch eine Frage der Persönlichkeit, aber ja, vieles kann man lernen. Und natürlich hilft Erfahrung.
Was müssen Menschen mitbringen, die bei Ihnen einsteigen wollen?
von Wietersheim: Sie müssen helfen wollen und Hilflosigkeit aushalten können. Unsere Aufgabe besteht darin, Not leidende Menschen nicht alleine zu lassen. Wir müssen das Leid mit aushalten und gleichzeitig Schritte finden, wie es für die Betroffenen weitergehen kann.
Wie denn?
von Wietersheim: Ein Einsatz dauert durchschnittlich drei Stunden. In dieser Zeit versuchen wir die Ressourcen der Betroffen zu aktivieren, zum Beispiel Angehörige zu informieren oder andere Menschen zu finden, die die Betroffenen weiter begleiten können.
Danach ist der Einsatz beendet?
von Wietersheim: Ja, die weitere Arbeit übernimmt das persönliche Netzwerk der Betroffenen oder auch Profis, falls das notwendig ist. Auch das müssen wir erspüren. Ob die Trauer sich in einem normalen Rahmen bewegt oder krankhaft ist. Ob jemand suizidale Gedanken hat oder zu Aggressionen gegen sich selbst neigt.
Diese Situationen müssen doch auch für die Helfer belastend sein.
von Wietersheim: Deshalb ist Supervision auch so wichtig und die Gespräche mit den Kolleginnen und Kollegen. Um sich zu entlasten, aber auch, um ständig dazuzulernen.
Geraten Notfallseelsorger nicht auch selbst an ihre Grenzen?
von Wietersheim: Man muss das Leid der Betroffenen wahrnehmen, in sie hinein spüren, aber gleichzeitig muss man sich auch innerlich distanzieren können. Sonst übernimmt man das Leid des anderen eins zu eins. Und das ist ungesund. Und natürlich geraten auch Mitarbeitende der PSNV an ihre Grenzen. Deshalb ist es wichtig, dass sie jederzeit aus einem Einsatz aussteigen können und dass sie immer selber bestimmen können, ob sie zu einem Einsatz fahren oder nicht.
Wie viele Einsätze hat die Arbeitsgemeinschaft PSNV im Landkreis Kitzingen?
von Wietersheim: 60 bis 80 pro Jahr. Beim Überbringen einer Todesnachricht ist man immer zu zweit, bei großen Unfällen oder komplexen Schadenslagen haben wir schon bis zu zehn Mitarbeitende gleichzeitig eingesetzt.
Sie sind seit mehr als 35 Jahren in der Notfallseelsorge tätig. Was motiviert Sie nach wie vor?
von Wietersheim: Es ist ein schönes Gefühl, Menschen in schwierigen Situationen beistehen zu können. Auch wenn man äußerst selten ein direktes Feedback erhält. Die Betroffenen sind in diesen besonderen Momenten selten dazu in der Lage. Ich konzentriere mich seit vielen Jahren auf die Ausbildung und die Arbeit im Hintergrund.
Und da gibt es genug zu tun?
von Wietersheim: Oh ja (lacht). Die Kosten sind beispielsweise ein großes Thema. Wir sind im Moment auf Spenden angewiesen und werden von der Kirche unterstützt. Derzeit ist die Psychosoziale Notfallversorgung eine freiwillige Aufgabe der Landkreise. Das kann nicht ewig so weitergehen. Irgendwann muss dieser Dienst zu einem Teil der staatlichen Fürsorge werden.