Am Morgen des 7. Januar 2016 wundern sich die Einwohner von Wiesentheid im Landkreis Kitzingen: Am Schlosspark herrscht gewaltige Aufregung. Eine junge Frau sei dort gefunden worden, heißt es schnell - von einem Mitbürger, der seinen Hund ausführte. Blutüberströmt und halb erfroren habe sie im Schnee gelegen.
Spurensuche und falsche Verdächtigungen
Polizisten durchsuchen den Park, ein Rettungshubschrauber landet. Die junge Frau liegt offenbar schon die halbe Nacht da, ist stark unterkühlt und wird ins Krankenhaus geflogen.
Rasch macht die Nachricht von einem Verbrechen die Runde: Mit einem Messer ist wiederholt auf sie eingestochen worden. Es kursieren Gerüchte. Ob nicht die Flüchtlinge aus Syrien und Somalia etwas damit zu tun hätten - im Asylbewerberheim neben dem Schlosspark? Bürgermeister Werner Knaier hält öffentlich dagegen: „In Wiesentheid gibt es keinen Platz für Fremdenhass“. Doch das Geflüster verstummt nicht.
Bald ist die Verletzte identifiziert, eine 22-Jährige aus dem Ort. Nur knapp hat sie die Attacke überlebt. Ob der Täter es noch einmal versuchen will? Sicherheitshalber stellt ihr die Polizei in der Klinik eine Wache vor die Tür – und sorgt auch dafür, dass die Öffentlichkeit das erfährt.
Der Schlosspark steht rund um die Uhr offen. Warum und mit wem war junge Frau dort? Die 22-Jährige kann dazu nichts sagen. Sie ist auch Tage später noch "in einem kritischen Gesundheitszustand", sagt der Pressesprecher der Polizei, Michael Zimmer.
Da ihre ärztliche Betreuung im Mittelpunkt steht, sichert auch die Rechtsmedizin zunächst keine Spuren, die zur Klärung beitragen könnten. Der Polizeisprecher muss die Journalisten mit Floskeln abspeisen: „Wir ermitteln in alle Richtungen - auf Hochtouren."
"Das Internet war voll mit Müll"
Später wird sich auch Schlossherr Paul von Schönborn mit Grauen erinnern: Die Studentin ist die Tochter eines seiner Beschäftigten. Spekulationen machen die Runde. "Das Internet war voll mit Müll", erinnert sich Schönborn, mit Hetze "gegen Ausländer und Moslems". Nach den Übergriffen in Köln fühlten sich manche dazu aufgerufen, willkürlich Verdächtigungen in die Welt zu setzen.
Das ist bitter. Die junge Frau hatte sich im erweiterten Helferkreis für die Integration der Asylbewerber eingesetzt. Um sich nichts vorwerfen zu lassen, befragten die Beamten auch die Flüchtlinge. Polizeisprecher Zimmer betont danach, dass es "keinerlei Hinweise gegeben hat, dass ein Asylbewerber etwas mit der Tat zu tun haben könnte".
Der Tatort und die Art der Verletzung lässt erfahrene Mordermittler wie Karl Erhard längst in eine andere Richtung denken. „Wir müssen im persönlichen Umfeld des Opfers suchen“, heißt es in Kripo-Kreisen. Die Ermittlungen führen Kripo-Beamte schnell zu einem sozialen Brennpunkt in Kitzingen: In einem Haus in der Egerländer Straße fristen Menschen in schwierigen Verhältnissen ihr Dasein, Obdachlose, Langzeit-Arbeitslose, manche mit Suchtproblemen.
Killer gesucht
Dort stoßen die Ermittler auf einen 19-Jährigen, der hier Reinhold heißen soll. Der Junge aus gutem Haus – ein Einheimischer – soll wütend gewesen sein: Die 22-Jährige hatte ihn verlassen. Und ausgerechnet hier soll der damals 19-Jährige einen Killer gesucht haben, der sich für ihn die Finger schmutzig macht. Wie ernst das gemeint war? Manche Bewohner des sozialen Brennpunktes genießen die plötzliche Aufmerksamkeit und erzählen Abenteuerliches. Ein junger Mann bestätigt: Reinhold habe ihn gefragt, ob er den Killer machen würde. Aber er weigerte sich zu töten.
Drei Tage nach der Tat wird Reinhold festgenommen, kurz darauf sein Kumpel, der damals 18-jährige Sebastian (Name ebenfalls geändert). Der posiert auf Facebook zwar wie ein Gangsta-Rapper. Aber als zwei kräftige Polizisten ihn in Handschellen in Würzburg in den Polizeibus laden, wirkt er so schüchtern, als sei er allenfalls fähig, hinter einem Busch einen Joint zu rauchen - aber nicht wie einer, der beim Mord helfen würde.
Er habe die Frau für die "Liebe seines Lebens" gehalten und von Heirat geträumt, sagt Reinhold in seinem Geständnis vor Gericht. Dass die 22-Jährige ihn nach vier Monaten verlassen hat, habe ihn aus der Bahn geworfen, er sei von daheim abgehauen, habe auf der Straße gelebt und seine Lehrstelle verloren. Am Ende landete er in der Notunterkunft in Kitzingen, gab der Frau die Schuld an seinem Elend - und hatte schon bald "Fantasien ihr etwas anzutun".
Am 4. Januar, habe man - wie so häufig - getrunken, eine Kräutermischung geraucht - und sich "innerlich leer und tot" gefühlt. Sebastian habe er erzählt, dass er jetzt nach Wiesentheid fahren und die Frau umbringen werde. "Er war ein bisschen aufgeregt und hat gesagt, dass er gern dabei wäre."
Die 22-Jährige sitzt heute im Rollstuhl und braucht ständig Hilfe. "Meine Mandantin wird nie einen ihren Neigungen entsprechenden Beruf ergreifen können", sagt ihr Anwalt Peter Auffermann vor Gericht. Ihre Zeugenaussage dort wird noch Monate später zur Qual für sie.
Von der Attacke gezeichnet
Die 22-Jährige kann ihren rechten Arm nicht bewegen, mit der verkrampften linken Hand streicht sie eine Haarsträhne zurück. Ihre Stimme ist unnatürlich piepsig, sie atmet schnell, manchmal entgleiten ihr ungewollt die Gesichtszüge, manchmal rollen ihre Augen einfach weg. Das Sprechen bereitet der Frau Mühe, zuweilen stottert sie.
Sie erzählt, wie sie am Abend des 4. Januar 2016 Textnachrichten von Sebastians Handy bekam. Der Kumpel ihres Ex-Freundes schrieb: Er wolle wissen, warum sie Reinhold verlassen hat. Dass es Reinhold selbst ist, der die Nachrichten diktiert, ahnte sie nicht.
Mit Sebastian spazierte sie in den Schlosspark. Sie wäre „definitiv nicht“ mitgegangen, wenn sie gewusst hätte, dass ihr Ex-Freund dort auf sie wartet, sagt die Frau.
Plötzlich stand Reinhold vor ihr. Er habe versucht, sie an sich zu ziehen und zu küssen, sie habe sich gewehrt, geschrien. Als sie weglaufen wollte, habe er sich ihr in den Weg gestellt, erzählt die 22-Jährige. In ihrer Not habe sie eine Freundin anrufen wollen. Da habe ihr Reinhold das Handy entrissen. Sein Freund, der sie hierher gelockt hatte, habe sich das Geschehen aus kurzer Distanz angeschaut, eine Zigarette geraucht und „nichts gesagt“.
An die drei Messerstiche, einen in den Hals, einen in den Nacken, einen in die Schläfe, erinnert sich die Frau nicht. Sie haben einen ihrer Gehirnnerven durchtrennt, zu einer Stimmbandlähmung geführt, ihr Rückenmark verletzt . . . Sie wird daran für den Rest ihres Lebens zu leiden haben.
Warum Reinhold der Frau, die ihn verlassen hatte, noch das Messer in den Nacken stach, als sie nach der ersten Attacke schreiend zu Boden ging? „Ich wollte nicht, dass sie zu sehr leidet", sagt der Mann mit dem Kindergesicht und den kurzen Haaren.
Messer dem Komplizen geschenkt
Die Männer fahren mit dem Taxi zurück nach Kitzingen und Reinhold beweist, wie viel cleverer er ist als sein Kumpel. Er wäscht das Blut vom Messer und schenkt es Sebastian. "Aus unerklärlichen Gründen" habe er es angenommen, sagt der.
Als Reinhold erfuhr, dass seine Ex-Freundin überlebt hat, habe er Angst bekommen, dass sie "der Polizei alles erzählt", sagt er. Deshalb habe er einen Bekannten gefragt, ob er die Sache für ihn "zu Ende bringen" würde. Vorbereitungen habe er aber nicht getroffen.
Erziehungsbedarf in der Haft
Wie der psychiatrische Gutachter ist auch das Gericht überzeugt, dass beide Männer "Reiferückstände" und "Erziehungsbedarf" haben. Bei dem Älteren, der laut Gutachten an einer Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) leidet, bestehe eine "Gewaltproblematik", er habe eine "problematische Persönlichkeitsstruktur" und solle im Jugendgefängnis eine Sozialtherapie machen, sagt der Vorsitzende Michael Schaller in der Urteilsbegründung.
Reinhold wird am 26. Januar 2017 zu elf Jahren Jugendgefängnis verurteilt, sein Freund zu siebeneinhalb. Der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe bestätigt seine Verurteilung.
Das letzte Wort hat Bürgermeister Knaier: Er bedankt sich bei den Ermittlern – und in Wiesentheid bei allen, die sich "an den Spekulationen und Gerüchten" nicht beteiligt hatten.