Wenn man es nicht besser wüsste, dann wäre der Gedanke gar nicht so abwegig: Die sind gerade mal alle auf dem Klo. Und die Schule da vorne rechts – sicherlich geht gleich die Tür auf und die Kinder kommen mit viel Hallo angestürmt. Aber weder hockt irgendwer auf dem Klo noch öffnet sich auch nur eine einzige Tür. Ein ganzer Stadtteil ohne Menschen, das strapaziert die Vorstellungskraft. Eine unwirkliche Szenerie: 89 Gebäude, 725 Wohnungen – und keine Menschenseele. Die perfekte Kulisse für einen Horrorfilm. Marshall Heights – eine Geisterstadt.
Die Verabredung in einem Kitzinger Kaffee mit Frank Schleehuber bietet die Möglichkeit, vor der 15-Minuten-Rundfahrt ein bisschen ins Plaudern zu kommen. Der Würzburger ist der Türöffner für das ehemalige Soldaten-Wohngebiet. Ohne den Pressesprecher der US-Armee gäbe es an dem deutschen Wachdienst kein Vorbeikommen.
Schleehuber ist ein guter Gesprächspartner. Zum einen, weil er den Job seit neun Jahren macht. Zum anderen, weil er selber ein Beispiel für den eingeläuteten Wandel ist: Sobald die Amerikaner Würzburg verlassen haben, macht auch sein Büro dicht.
Zwar wird er weiter bei den Streitkräften irgendwo als Pressesprecher arbeiten – nur ist sowohl das Wann als auch das Irgendwo noch völlig offen. Wobei sich diese Probleme schlagartig relativieren, als sich eine junge Frau vom Nebentisch in das Gespräch einschaltet. Wie sich herausstellt, ist sie Verkäuferin in der Würzburger Kaserne. Genau gestern flatterte der Zivilangestellten die Kündigung ins Haus. In guten Zeiten hätte Schleehuber hier vielleicht etwas drehen und vermitteln können. Jetzt bleibt auch ihm nichts weiter übrig, als nach einem kurzen Moment des betretenen Schweigens der bald arbeitslosen Frau viel Glück zu wünschen.
Marshall-Heights. Die Schranke geht hoch. Der Wachdienst schützt zwar das Nichts, aber das tut er gründlich. So lange, wie die Amerikaner noch den Daumen auf der 32 Hektar großen Wohnanlage haben, gibt es keine Sperenzchen. Und auch kein angedeutetes Lächeln – Besucher sind hier eher ungebeten. Erst mit der offiziellen Rückgabe des Geländes spätestens im März werden die Wachleute verschwinden. Was einerseits eine gewisse Bedrohlichkeit aus dem Kitzinger Stadtbild nimmt. Andererseits mag man sich gar nicht vorstellen, wem in einer unbewachten Geisterstadt Tür und Tor geöffnet sind.
Nach Ausweis- und Gesichtskontrolle ist der Weg in die verbotene Stadt frei. Als Pendler nach Würzburg hat man so sein Bild, was da linkerhand am Stadtausgang liegt. Ein paar nicht gerade einladende Häuserblocks, mehr nicht.
„Die Übergabe findet innerhalb der nächsten drei Monate statt“
Frank Schleehuber Pressesprecher der US-Armee
Wer schon mal auf dem Parkplatz des Kitzinger Krankenhaus stand, weiß ein wenig mehr: Die paar Häuserblocks dehnen sich ganz schön nach hinten aus. Dass die Marshall Heights so etwas wie ein eigener Stadtteil sind, lässt sich vom gegenüber liegenden Hang zumindest erahnen.
Noch mehr Häuserblocks. Immer mehr. Je versteckter, desto schöner als die an der Bundesstraße. Ein Kraftwerk. Tennisplätze. Basketballplatz. Eine Schule mit Turnhalle – hierher soll bald die Paul-Eber-Schule für ein Jahr wegen der anstehenden Generalsanierung ausgelagert werden. Daneben ein Kindergarten und ein Jugendzentrum. Das Gelände strahlt Großzügigkeit aus. Was nicht zuletzt der amerikanischen Vorliebe geschuldet ist, immer und überall parken zu wollen.
Einmal Berg rauf, dann wieder Berg runter – es wird lauschig. Doppelhaushälften für die höheren Dienstgrade. Vielleicht liegt es am frischen Schnee, aber irgendwie sieht alles sehr jungfräulich aus. Im Oktober vergangenen Jahres ist hier die letzte Familie ausgezogen – seither liegt das Wohngebiet besenrein da. Kein Schnipselchen. Alles wie geleckt. Und gerade als die Frage auftaucht, ob man sich vielleicht doch auf einem fremden Planeten befindet, ein Lebenszeichen: Ein Fahrzeug der Kitzinger Licht-, Kraft- und Wasserwerke dreht seine Runden.
Was sonst noch auffällt: Straßennamen gibt es nicht, hier ist alles durchnummeriert und Häuser heißen schlicht 377 A. Das hartnäckige Gerücht, dass die Amerikaner unendlich viele Katzen zurückgelassen haben, ist wohl nur ein Gerücht: Im Schnee jedenfalls finden sich weder Spuren von Zwei- noch von Vierbeinern. Und dann ist da noch dieser Aushang: Eine Einladung zur großen Party am 28. Juli 2006. Es dürfte der letzte Tanz gewesen sein.