
Sport-Intellektueller, Fußballphilosoph, Doyen der deutschen Kommentatorenszene – die Feuilletonisten im Ressort Leibesübungen haben Marcel Reif einige ehrbare Beinamen angedeihen lassen. Das Leitmedium Fernsehen hat den Chefkommentator des Bezahlsenders Sky, ehedem Premiere, selbst zum Prominenten gemacht. Reif polarisiert wie kein zweiter Sportinterpret.
Die betont andersartige Terminologie hinter dem Mikrofon ist beliebt und verachtet: Mancher hält Reif für den Branchenbesten, mancher für einen herablassenden Dampfplauderer. Um ein Fußballspiel rhetorisch zu sezieren, hat der 60-Jährige die Neigung zum Silbenstreicheln entwickelt – weg vom drögen Geschwurbel hin zu erquickenden Satzgefügen. Reif sagt: „Wenn Sie dieses Spiel atemberaubend finden, haben Sie es an den Bronchien.“ Kollegen sagen: „Das Spiel reißt keinen vom Hocker.“ Das macht den bekömmlichen Unterschied.
Bezeichnend ist, was Reif einmal in einem TV-Porträt geäußert hat: „Sprache war für mich Überleben.“ Polen und Israel hießen die Stationen seiner Kindheit, ehe die Familie nach Kaiserslautern zog und er mit acht Jahren Deutsch lernte.
Mit seinen Bonmots verdiente Reif sich den Adolf-Grimme-Preis sowie den Deutschen Fernsehpreis. Die Fähigkeit, das Publikum auf kurzweilige und unterhaltsame Art mit bildhafter Sprache und Anekdoten zu begleiten, verschaffte ihm dieser Tage eine weitere Auszeichnung: Die Kitzinger Karnevalsgesellschaft hat dem Journalisten, der nach dem Studium beim ZDF anfing und später zu RTL ging, den als honorig zu verstehenden Titel „Schlappmaul“ verpasst.
Vergangenen Samstag kommentierte Reif die Partie des FC Bayern München gegen Dortmund, am heutigen Mittwoch die gegen Florenz. Rosenmontag holte er sich in Kitzingen den bundesweit angesehenen Fastnachtsorden aus Bronzeguss ab. Zur Kostümsitzung erscheint Reif ...
...im dunklen Anzug und mit Glitzerstaub auf den Wangen. Er sitzt in der ersten Reihe direkt am Bühnenaufgang.
Es soll ein langer Abend werden: Das Protokoll hat die Übergabe des Ordens erst als 16. von 19 Programmpunkten vorgesehen, irgendwann zwischen 23 Uhr und Mitternacht. Der seit 13 Jahren in Zürich sozialisierte Reif gibt äußerlich den Skeptiker: die rechte Hand am Kinn, Daumen und Zeigefinger abgespreizt. Mit der gezwurbelten Locke in der Denkerstirn und dem Blick über die gehornten Brillenränder klatscht der graumelierte Gentleman höflichst nach jeder karnevalistischen Einlage.
Der Zeitplan ist nach mancher Zugabe auf der Bühne inzwischen mehr als eine halbe Stunde verschoben. Programmpunkt 16 wird um halb zwölf aufgerufen, doch vor den Preis haben die Narren die Lobhudelei gesetzt. Reifs Laudator Hannes Brachat, ein in Iphofen sesshafter, schwäbischer Professor für Automobilwirtschaft, verzögert den mittlerweile nächtlichen Höhepunkt der Sitzung um eine gefühlte Unendlichkeit. Nach Abhandlungen über Reifs Lebens- und Berufsweg verstrickt Brachat sich in Lokalkolorit, Geschichtslektionen und Autoindustrie. Die Quintessenz der professoralen Vorlesung: „Marcel Reif redet geistvoll Klartext. Er ist ein Wachrüttler, der sich zu sagen traut, was Sache ist.“
Der Faschingsdienstag ist bereits einige Minuten alt, als Reif schließlich doch mit dem Schlappmaulorden dekoriert wird. Seine kurze Dankesrede ist ein Moment des Sentimentalen, nicht des Launigen. „Das Leben hält sich nicht immer an den Kalender“, sagt Reif und ist dabei so nahbar und unprätentiös. „Ich lache heute mit einer Träne im Auge.“ Vor kurzem starb seine Mutter, vergangene Woche sein langjähriger ZDF-Kollege und Freund Michael Palme nach schwerer Krankheit. „Wir waren wie Brüder. Es hat mich Überwindung gekostet, nach Kitzingen zu kommen“, sagt Marcel Reif im persönlichen Gespräch. „Lachen hilft aber auch, über solche traurigen Ereignisse hinwegzukommen.“ Er hat wieder einmal die angemessenen Worte gefunden.