Bruno Gasser erinnert sich an ihre Gesichter, ihre Augen, ihre fremde Sprache. Oft hat er im Raum neben ihnen geschlafen. Bei den deutschen Bewachern. Mitten in Kitzingen, am Königsplatz, leitete sein Vater Fritz Grasser im Zweiten Weltkrieg das Lager der französischen und belgischen Kriegsgefangenen. Als einer der letzten Zeitzeugen möchte Bruno Grasser erzählen, wie es dazu kam. Seine Geschichte ist eine Geschichte von Gesten der Menschlichkeit mitten im Zweiten Weltkrieg.
Bruno Grasser ist 84 Jahre alt. Die Szenen, die er in seiner Kindheit erlebt hat, haben sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Sein Lebtag lang hat er sie mit sich herumgetragen. Jetzt, im Ruhestand, hat er sie aufgeschrieben, fein-säuberlich mit seiner Schreibmaschine. Er hat sie an Botschafter, Politiker, Medien verschickt – und wartet seitdem auf Antworten. „Ich möchte erzählen, wie ganz normale Menschen von einem System vereinnahmt wurden.“ Es sei sehr wichtig, das zu verstehen, auch und gerade für die nächsten Generationen. „Denn auch heute werden Menschen in gewalttätige Regime gezwungen, obwohl ihre Gesinnung eine friedliche ist.“
Bruno Grassers Vater Fritz war von Beruf Buchbinder. Er stammte aus Bamberg, seine Mutter Marie aus Würzburg. Als junge Familie lebten die Grassers in Würzburg. „Vati war dort Pfadfinderführer“, erzählt Bruno Grasser. Als Hitler die Pfadfinder verbot, habe sein Vater alle Mitglieder zusammengetrommelt. Er habe ihnen gesagt, es gebe zwei Möglichkeiten: Man könne die Gruppen entweder auflösen oder gemeinsam der Hitlerjugend beitreten. „Da die Pfadfinder zusammenbleiben wollten, votierten sie bei der folgenden Abstimmung für die Hitlerjugend.“
Weil Fritz Grasser an Wasser in den Beinen litt, wurde er während des Krieges nicht an die Front geschickt, sondern zum Innendienst abkommandiert. Er hatte die französischen und belgischen Kriegsgefangenen in Kitzingen zu beaufsichtigen. Das Lager dieser Gefangenen befand sich am Kitzinger Königsplatz – dort, wo heute die Hypovereinsbank ihr Domizil hat. Am Flugplatz habe es noch ein weiteres Gefangenenlager gegeben, „für die russischen Gefangenen“, sagt Bruno Grasser, allerdings habe sein Vater mit diesem Lager nichts zu tun gehabt.
Der Lagerleiter-Sohn schlief oft bei der Wachmannschaft
„Etwa alle 14 Tage bin ich am Wochenende mit Mutti nach Kitzingen gekommen. Sie hat mich immer mitgenommen, damit meine Oma in Würzburg keinen Ärger mit mir hatte.“ Die Oma habe einen Kolonialwaren betrieben und zugleich die Aufgabe gehabt, auf Brunos ältere Schwestern aufzupassen.
Als er seinen Vater erstmals im Kriegsgefangenenlager besuchte, war Bruno Grasser erst fünf, sechs Jahre alt. Aber er erinnert sich an viele Details: „Vom Königsplatz aus ging es durch ein großes Holztor, hinter dem eine kleinere Tür war. Rechts davon ging es ein paar Treppenstufen hoch, ins Büro meines Vaters.“ Dort habe er erlebt, was passierte, wenn Gefangene Pakete von zuhause bekamen. „Vati ließ den Betreffenden holen und öffnete die Post in ihrem Beisein. Er hatte ein dickes Buch mit waagrechten und senkrechten Linien, in das er alle Artikel eintrug. Wenn der Gefangene später etwas davon haben wollte, konnte er jederzeit zu meinem Vater ins Büro kommen, der das Gewünschte aus dem Spind nahm und übergab.“
„Wenn Mutti und ich Vati besuchten, liefen meine Eltern abends über den Main nach Etwashausen zu einem Gärtner, bei dem Vati ein Zimmer gemietet hatte. Ich blieb im Lager und schlief bei der Wachmannschaft.“ Mit vielen Gefangenen habe er „guten Kontakt“ gehabt, erzählt Bruno Grasser. „Ein Franzose, der René hieß, hat mir immer über den Kopf gestreichelt und erzählt, dass er in Frankreich einen Sohn in meinem Alter habe und dass ich ihm ähnlich sehe.“
Bruno Gasser: „Vati war kein Nazi“
Sein Vater Fritz habe die Gefangenen nie von oben herab behandelt, ist Bruno Grasser sicher. Jeden Morgen habe er das große Tor aufgeschlossen und die 60 bis 70 Gefangenen seien eigenständig zu ihren Arbeitsstätten bei Bauern und Unternehmen gegangen. Abends seien sie ebenso selbstständig zurückgekommen. „Nur die zirka 45 Leute, die in der Etwashäuser Lederfabrik Döppert gearbeitet haben, wurden von einem Wachmann eskortiert.“
Einmal hätten Gefangene gefragt, ob sie im Innenhof Hasen halten dürften, erzählt Bruno Grasser. „Vati erlaubte es. Also brachten einige Männer Bretter und Draht mit und bauten Ställe.“ So zogen etliche Karnickel im Gefangenenlager ein. „Diejenigen, die bei Bauern arbeiteten, organisierten Futter für die Tiere.“ Wenn sie einen Hasen schlachten wollten, hätten sich die Gefangenen Grassers Erlaubnis eingeholt – und daraufhin hätten die deutsche Köchin und die zwei Franzosen, die in der Küche mitarbeiteten, sonntags Hasenbraten zubereitet, „auf einem riesigen Eisenherd“.
Nie vergessen werde er die Bilder, den Geruch und die Geräusche des 16. März, des Tages der Bombardierung Würzburgs, stellt Bruno Grasser fest. „Nach zwei Tagen konnten wir den Luftschutzkeller verlassen und sahen die Ruinen meines Elternhauses. Tiefflieger griffen immer noch an, wir mussten uns mehrmals schnell verstecken.“
Im Visier eines Tieffliegers
Sie seien aus Heidingsfeld hinausgelaufen, Richtung Wald, als sie erneut aus der Luft beschossen wurden. „Ein altes Ehepaar, das mit uns lief und sich nicht mehr in den Straßengraben werfen konnte, stellte sich unter einen Obstbaum, der im März aber noch keine Blätter hatte. Dort wurden die beiden alten Menschen von einem Tiefflieger erschossen. Meine Urgroßmutter, meine Großmutter, meine Mutter und wir vier Kinder, eines noch ein Baby, liefen von Dorf zu Dorf, bettelten, schliefen in Scheunen und auch einmal mit 60 anderen Ausgebombten in einem Klassenzimmer.“
Bruno Grasser erinnert sich an den Ort Reupelsdorf, durch den sie kamen. „Unser Ziel war ein Waisenhaus bei Castell. Wir hatten seit der Bombardierung Kitzingens am 23. Februar nichts mehr von Vati gehört. Alle dachten, er sei tot.“ Nach etwa einem Jahr im Waisenhaus sei jedoch etwas Unglaubliches passiert. „Es hieß, unser Vati sei gekommen, um uns abzuholen. Wir hatten schreckliche Angst: Wie kann ein Toter uns abholen?“
Doch Fritz Grasser war lebendig zurückgekommen – er war selbst in Kriegsgefangenschaft geraten gewesen. Als er zurückkam, erzählte er: Nach dem Bombenangriff am 23. Februar 1945 hätten die Kriegsgefangenen in Kitzingen den Luftschutzkeller verlassen und viele Menschen, hauptsächlich Frauen und Kinder, aus ihren zertrümmerten Häusern gerettet. „Mein Vater sagte mir damals, ohne die Hilfe der Gefangenen wären noch viel mehr Kitzinger in den Ruinen ums Leben gekommen.“ Die Kriegsgefangenen hätten viele Verschüttete ausgebuddelt.
Dann stand Fritz Grassers Termin für die „Entnazifizierung“ an. „Damals war automatisch jeder Lagerleiter ein Verbrecher und man wusste nicht, wie die Verhandlung ausgehen wird“, blickt Bruno Grasser zurück. „Vater nahm mich vorher zur Seite und sagte, ich sei für Mutter und Schwestern verantwortlich, falls er ins Gefängnis müsse.“ Das war aber nicht der Fall. Das Familienoberhaupt kam abends wieder nach Hause. „Er erzählte meiner Mutter, was er erlebt hatte. Ich hörte alles mit. Demnach hatten zwei ehemalige Kriegsgefangene und die Anwälte dreier weiterer ausgesagt, es hätte keinen humaneren Lagerleiter geben können als meinen Vater.“
Nicht die Verbrechen der Deutschen relativieren
Später sei jedes Jahr ein ehemaliger Gefangener mit seiner Frau und zwei Töchtern nach Kitzingen gekommen. „Einen Tag lang besuchten sie uns, am nächsten den einstigen Vorarbeiter der Lederfabrik.“ Fritz Grasser habe lange Jahre auch schriftlich Kontakt zu ehemaligen Gefangenen gepflegt.
Bruno Grasser betont, er wolle keinesfalls die Verbrechen, die die Deutschen damals begangen, relativieren. „Es ist schrecklich, wozu Menschen fähig sind.“ Aber es gebe eben auch mitten im Krieg Lichtblicke der Menschlichkeit und des Respekts – das wolle er aufzeigen. „Es gab auch bei uns Menschen, die im Gefangenen nicht nur den Feind, sondern den Mitmenschen sahen.“
Um dies publik zu machen, hat Bruno Grasser an mehrere Botschafter und Politiker geschrieben. Er hofft, dass sich seine Worte verbreiten und dass sie junge Leute aufrütteln – statt „Tod dem Feind“ sollten sie „Tod den Feindbildern“ fordern. „Ich bin mit meinen 84 Jahren noch ganz klar im Kopf und einer der letzten Zeitzeugen. Von meiner Kindergartenzeit in Heidingsfeld bis heute läuft mein Leben wie ein Film in meinem Kopf ab.“
Als Familie Grasser 1946 wieder zusammengefunden hatte, bezog sie in Etwashausen erst eine Kellerwohnung in der Flugplatzstraße („gegenüber vom Gärtner Günther“), dann ab 1948 das „Funkhaus“, erzählt Bruno Grasser. Sein Vater übernahm als gelernter Buchbinder den Schreibwarenladen mit Buchbinderei und Bilder-Rahmung in der Würzburger Straße. „Dort war auch die Annahmestelle für Anzeigen in der Kitzinger Zeitung.“
Bruno Grasser ging in die Volksschule – „Georg Ziegler von LRZ war mit mir in der Klasse, unser Lehrer hieß Schäfer“ – und absolvierte dann eine Lehre zum Industriekaufmann in der Marktbreiter Farben- und Lackfabrik. Mit Anfang 20 wechselte er zur Kitzinger Farben- und Lackfabrik, ehe er Verkaufsleiter bei einem großen Düsseldorfer Konzern wurde. Er zog nach Offenbach und lebt heute in Rodgau.
Sein Vater führte den Laden in Kitzingen, bis er in Rente ging. Dann zog er nach Hammelburg. Dort ist er beerdigt.
Fakten-Check
Recherche im Stadtarchiv: Doris Badel, die Leiterin des Kitzinger Stadtarchivs, hat historische Dokumente gesucht, um Bruno Grassers Geschichte zu überprüfen:
• Es ist mit einem Stadtratsprotokoll belegt, dass es im Anwesen Königsplatz 7 ein Kriegsgefangenenlager für Franzosen gab. Es wurde knapp ein Jahr nach Beginn des Zweiten Weltkrieges eingerichtet und hatte im 1. und 2. Stock Platz für 103 Gefangene. Ursprünglich hatte die Hypo-Bank (Königsplatz 9) das Areal zwecks Erweiterung vom jüdischen Weinhändler Gregor Heidingsfelder erworben; über die Umstände des Kaufs/ Verkaufs kann man nur spekulieren.
• Buchbinder Fritz Grasser wohnte laut Adressbuch 1950 in der Flugplatzstraße 42, sechs Jahre später in der Flugplatzstraße 15; dort wohnten einige Gärtnerfamilien Günther.
• Das Adressbuch 1961 führt Fritz und Bruno Grasser in der Würzburger Straße 7 auf. Tatsächlich steht im Adressbuch des Jahres 1938 unter dieser Adresse ein Kolonialwarengeschäft. In der Nachkriegszeit (Adressbuch 1956) befand sich das Geschäft in der Hausnummer 5, Fritz Grasser war unmittelbarer Nachbar.
Recherche im Staatsarchiv Würzburg: Die Akten bezüglich Fritz Grasser umfassen 143 Seiten, der Großteil sind Spruchkammer-Akten. Sie zeichnen kein einheitliches. Es gibt zahlreiche Aussagen, Grasser sei besonders gut zu den Gefangenen gewesen, aber auch einige, die ihn beschuldigen, er habe Menschen schikaniert. Besonders spannend: Während des Krieges soll er eine politisch verfolgte Französin heimlich versteckt haben, was eine große Gefahr für sein Leben und das seiner Familienmitglieder bedeutete. Im „Entnazifizierungsprozess“ wurde Fritz Grasser freigesprochen. Ehemalige Häftlinge und der Leiter der Firma Döppert sagten für ihn aus.