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Kitzingen
Kitzingens Jobcenter-Chef: "Hartz IV war besser als sein Ruf"
Gerhard Waigandt begrüßt das neue Bürgergeld. Der Chef des Jobcenters in Kitzingen sieht hier eine Weiterentwicklung und erklärt, warum sich Arbeit lohnt.
Das Kitzinger Jobcenter befindet sich im Industriepark ConneKT.
Foto: Frank Weichhan | Das Kitzinger Jobcenter befindet sich im Industriepark ConneKT.
Frank Weichhan
 |  aktualisiert: 17.12.2022 02:56 Uhr

Das Bürgergeld kommt. Die Ampel-Koalition und Union haben sich geeinigt, der Streit um das Bürgergeld ist beigelegt. Die Reform soll noch diese Woche ihre letzte Hürde nehmen und dann im Januar in Kraft treten. Wie beurteilt Gerhard Waigandt, Chef des Kitzinger Jobcenters, diese Entwicklung? Fragen an den Fachmann.

Frage: Wie haben Sie die Diskussion um das Bürgergeld erlebt?

Gerhard Waigandt: Es ist aus meiner Sicht verwunderlich, dass bereits eine so kontroverse Diskussion um ein Gesetz entstanden ist, das in der endgültigen Fassung noch gar nicht vorliegt. Es ist auch bedauerlich, dass je nach Interessenslage ungenaue Informationen gestreut werden.

Was hat an Hartz IV aus Ihrer Sicht nicht gepasst, dass es weg soll?

Waigandt: Hartz IV ist an sich besser als sein Ruf, auch wenn Anpassungen angezeigt sind. Beispielsweise war der Vorrang der Vermittlung nicht immer zielführend und auch die Einführung der Bagatellgrenze erleichtert die tägliche Arbeit.

Welche Veränderung bringt das Bürgergeld?

Waigandt: Die Einführung des Bürgergeldes ist eine umfangreiche Reform, mit der die Grundsicherung für Arbeitsuchende grundlegend weiterentwickelt und an die aktuellen Entwicklungen des Arbeitsmarktes sowie die Lebensumstände der Menschen angepasst werden soll. Die Begründung des Regierungsentwurfs zum Bürgergeld-Gesetz verspricht „neue Perspektiven und mehr soziale Sicherheit in einer modernen Arbeitswelt“ und dass Menschen im Leistungsbezug sich „stärker auf Qualifizierung, Weiterbildung und Arbeitsuche konzentrieren können“. 

Sehen Sie mehr Verbesserungen oder eher Verschlechterungen?

Waigandt: Unter dem Strich gehe ich davon aus, dass es für unsere Kundinnen und Kunden positive Veränderungen bringen wird. Es wird aber immer notwendig sein, eine gute Balance zwischen Leistungsempfänger und Leistungserbringer zu finden.

Als Mann der Praxis: Wie müsste, wenn Sie es sich wünschen dürften, ein gutes System aussehen?

Waigandt: Ich begrüße die Neuausrichtung des SGB II grundsätzlich. Sie trägt dazu bei, Stigmata abzubauen, die soziale Akzeptanz zu erhöhen und bringt den betroffenen Menschen positive Effekte. Damit ist eine gute Grundlage geschaffen.

Gerhard Waigandt, Leiter des Jobcenters in Kitzingen.
Foto: Andreas Brachs | Gerhard Waigandt, Leiter des Jobcenters in Kitzingen.

Wie viele Kunden betreut das Jobcenter derzeit?

Waigandt: Momentan sind es 2264 Menschen in 1118 Bedarfsgemeinschaften.

Wie viele davon sind Bestandskunden, also noch nie vermittelt worden?

Waigandt: Statistisch ist dies nicht auswertbar.

Wie viele Ihrer Kunden sind überhaupt in der Lage, Vollzeit zu arbeiten?

Waigandt: Im Oktober hatten wir 624 Arbeitslose, von denen 381 in Vollzeit gemeldet sind.

Noch nie gab es so viele Angebote, so viele offene Stellen – warum lassen die sich nicht besetzen? Warum hat das so wenig Auswirkungen auf Hartz-IV-Empfänger?

Waigandt: Angebot und Nachfrage passen nicht immer zusammen. Es kann nicht jeder unserer Kundinnen oder Kunden jede erdenkliche Stelle annehmen. Es muss bei den Bewerbern für jede Stelle die nötige Qualifikation vorhanden sein, da haben die Arbeitgeber ja durchaus berechtigte Ansprüche. Fehlende Mobilität, generelle Eignung, eingeschränkte Sprachkenntnisse oder auch gesundheitliche Einschränkungen stehen einer Arbeitsaufnahme oftmals im Wege.

Kennen Sie einen Kunden, der 100.000 Euro auf der hohen Kante hat?

Waigandt: Nein! Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich so jemanden im Bekanntenkreis habe.

Was sagen Sie generell zu dem Schonvermögen?

Waigandt: Es ist aus meiner Sicht positiv zu beurteilen, wenn ein in eine Notlage geratener Mensch nicht sein nahezu komplettes Vermögen, das der Alterssicherung dienen soll, verbrauchen muss. Unsere Leistungen sollen ja auch nur vorübergehend in Anspruch genommen werden. Über die Höhe will ich hier keine Aussage treffen. Das ist alleine die Entscheidung des Gesetzgebers.

Mehr Vertrauen, weniger Kontrollen und Sanktionen – was halten Sie davon?

Waigandt: Egal, wie das Bürgergeld letztendlich ausgestaltet wird, werden Kontrolle und Sanktionen ja nicht gänzlich verschwinden. Unabhängig davon haben wir schon immer versucht, mit unseren Kundinnen und Kunden vertrauensvoll zusammen zu arbeiten. Dass dies nicht immer leicht ist, liegt vor allem an den Erwartungshaltungen der Kundinnen und Kunden und den uns begrenzten gesetzlichen Möglichkeiten. Leider bleibt uns dadurch nur sehr wenig Spielraum. 

Glauben Sie, dass mit Einführung des Bürgergeldes mehr Menschen zu Ihnen kommen?

Waigandt: Alleine durch das Bürgergeld glaube ich nicht, dass mehr Menschen zu uns kommen werden. Mir machen da die Inflation und damit verbundenen Preissteigerungen in nahezu allen Bereichen, vor allem in der Energieversorgung, mehr Kopfzerbrechen. Aus diesen Gründen werden mehr Menschen uns brauchen und künftig unsere Leistungen in Anspruch nehmen.

Ist der Unterschied zwischen Bürgergeld und einem im Niedriglohnsektor arbeitenden Familienvater zu gering? Oder anders: Lohnt sich im unteren Segment Arbeit noch?

Waigandt: Mit der Anhebung des Mindestlohns hat die Regierung dafür gesorgt, dass der Unterschied größer ausfällt. Dazu behaupte ich, dass sich Arbeit immer lohnt. Wir versuchen dies auch immer unseren Kundinnen und Kunden zu verdeutlichen. Alleine die Teilnahme am sozialen Leben, in dem man auf Arbeit geht und sich austauschen kann, sich selbst seinen Lebensunterhalt verdient, sollte bei der Beantwortung dieser Frage nicht außer Acht gelassen werden.

 
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  • G. K.
    Zitat: “Wie beurteilt Gerhard Waigandt, Chef des Kitzinger Jobcenters, diese Entwicklung? Fragen an den Fachmann.”

    Niemand ist aus meiner Sicht ein Fachmann, der nicht weiß, wie es ist, mit Hartz IV und/oder dem Bürgergeld eine Familie versorgen zu müssen.

    Gerade die Beamten sind doch von der Lebenswirklichkeit eines Hartz IV-Empfängers Lichtjahre entfernt.

    Auch dieser Artikel zeigt es leider wieder überdeutlich: In der Diskussion über Leistungen wie Hartz IV und das Bürgergeld haben die Betroffenen keine Lobby.

    Das ist Gutherrenmentalität ...
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  • W. S.
    Gutsherrenmentalität: Wie in vielen deutschen und Würzburger Ämtern, und das im 21. Jahrhundert wo man sich wünscht auf Augenhöhe zu kommunizieren. Nur leider genießen viele der Damen und Herren in den Amtsstuben diese "Macht" und haben noch nicht verstanden das sie auch "nur" Dienstleister sind.
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  • H. S.
    Ja die Hartz 4 Bezieher meinen sie waeren was besonderes. Früher vor Einführung des Hartz 4 Gesetzes waren diese Leute "Hilfeempfänger" , was komplett der Wahrheit entspricht.
    Bitte den Ball flach halten, denn damit diese Leute Geld erhalten müssen andere Arbeiten.
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  • Veraltete Benutzerkennung
    Fast 1/4 der Empfänger arbeiten selbst.

    Zum Glück meinen Sie nicht, Sie seien etwas besonderes.
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  • H. S.
    Dazu zählen auch Minijobs, wenn Leute die Vollzeit arbeiten könnten nur auf Minijobbasis arbeiten, dann stimmt was nicht.
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  • G. K.
    Es gibt diesen schönen Spruch: "Urteile niemals über Menschen, die in einer Situation sind, in der du noch nie warst."

    Einfach mal darüber nachdenken ...

    Und vielleicht aufhören, alle Bezieher von Sozialleistungen als Sozialschmarotzer zu betrachten ...
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  • R. A.
    Die Frage ist nicht arbeiten können, sondern arbeiten wollen.
    Manch eine(r) bleibt doch lieber liegen.
    Es herrscht doch kein Druck…
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  • D. E.
    "Manch eine(r) bleibt doch lieber liegen."

    2021 wurden nur 3% der Hartz-4 Empfänger sanktioniert.
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  • H. S.
    Warum wohl?
    Das Ergebnis war corona geschuldet?
    Fanden ja kaum persönliche Termine statt.
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  • P. M.
    Ein Komplettversagen sind die Regierungen der letzten Jahrzehnte. 50 Jahre gearbeitet um in Rente noch etwas vom Leben zu genießen, heißt 2022, Lebensmittel und Heizung.
    Danke Deutschland für deine großzügigen Millionen Gelder für die bedürftigen dieser Welt.
    Millionen, die meistens in Taschen von korrupten Politikern landeten. 😎
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  • D. P.
    Das Bürgergeld in seiner jetzigen Form ist sozialpolitisch ein Komplettversagen. Einmal mehr hat die Union bewiesen, dass sie Politik für die betreibt, die haben - auf Kosten derer, die nicht haben. In Zahlen ausgedrückt sind das ca. 45 Milliarden jährliche Kosten für Sozialleistungen. Dem gegenüber stehen ca. 100 Milliarden an Steuerhinterziehungen. Warum man den Rotstift bei denen ansetzt, die nicht haben, ist nicht nachvollziehbar. Es wird immer argumentiert, mit mehr Sozialleistungen signalisiere man „Arbeit lohnt nicht“. Was ist eigentlich mit dem Signal „Steuerhinterziehung lohnt“? Wohin die Reise sozialpolitisch gehen könnte, wenn man SPD und Grüne im Gegensatz zur Union und FDP regieren lassen würde, konnte man gestern Abend bei Maischberger sehen: 0% MwSt auf Obst und Gemüse. Sozialpolitisch könnte sich so viel Positives tun in diesem Land. Stattdessen lässt man Söder bei der Tafel herumspringen und tut so, als würde man damit Gutes tun.
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  • R. D.
    Diese Sozialleistungen gehören nur vorübergehend gezahlt damit keiner in eine Notlage gerät. Gerne auch höher als heute. Dann muss aber jeder wieder etwas tun und es sich nicht mit der Sozialleistung der Gesellschaft ein Leben lang gemütlich einrichten.
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  • R. D.
    - "Unsere Leistungen sollen ja auch nur vorübergehend in Anspruch genommen werden"
    - 2264 Leistungsbezieher, davon "624 Arbeitslose, von denen 381 in Vollzeit gemeldet sind."

    Passt das zusammen?
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  • H. S.
    Das sind die Zahlen vom kleinen Jobcenter Kitzingen.
    Gehen sie mal in die Großstädte, da gibt es ganz andere Zahlen, nicht vergleichbar mit der Provinz Kitzingen.
    Die Frage ist doch, wer soll das Ganze noch finanzieren.
    Herr Waigandt druckst doch mit seinen Antworten auch nur rum, die Wahrheit sagt er doch auch nicht.
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  • Veraltete Benutzerkennung
    "Wie viele Ihrer Kunden sind überhaupt in der Lage, Vollzeit zu arbeiten?"

    Das Vollzeit bezieht sich auf etwas völlig anderes wie Sie hier behaupten.
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  • M. S.
    Ja, das passt zusammen: das Jobcenter betreut 624 Personen, von denen 381 Vollzeit arbeiten könnten.

    Und diese 624 Personen ernähren wiederum 1640 Familienangehörige, die mit ihnen zusammen leben.
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