Wenn Jocelyne Nicoly an ihre erste Begegnung mit dem neuen französischen Premierminister denkt, muss sie schmunzeln. Jean Castex war im Jahr 2009 gerade ein Jahr Bürgermeister seiner Heimatstadt Prades, im Südwesten Frankreichs. Und auch Nicoly hatte erst wenige Monate vorher die Zuständigkeit für die französische Partnerstadt im Kitzinger Partnerschaftsverein übernommen.
Nicoly, selbst Französin, war damals mit ihrem Mann aus Mittelfranken nach Kitzingen gezogen und wollte sich in ihrer neuen Funktion ein Bild von der Partnerstadt am Rande der Pyrenäen, kurz vor der spanischen Grenze machen. Also buchte sie mit ihrem Mann ein Appartement in Prades und schlenderte durch die Straßen. Dabei fiel ihr ein Mann mit Akten unterm Arm auf, in ein lebhaftes Gespräch vertieft.
"Freundlich und umgänglich"
Als sie in der Nähe stand, bot er der Touristin sogleich seine Hilfe an. Nachdem der Bürgermeister hörte, mit wem er es zu tun hatte, lud er Nicoly spontan ins Rathaus ein. "Er ist freundlich, umgänglich, ein netter Bürger", so lautet im Rückblick Nicolys Eindruck von dem Mann, der neben der Kommunalpolitik längst in den höheren Sphären der französischen Hauptstadt angekommen ist.
Obwohl er die Elite-Verwaltungsschule ENA absolvierte, sei der "Enarque" keinesfalls abgehoben und bediene sich – für diese Elite eher ungewöhnlich – einer einfachen, verständlichen Sprache im Umgang mit seinen Mitmenschen, befindet Nicoly.
Allerdings ließen schon vor zehn Jahren die vielen Ämter im Zentrum der Macht kaum zu, dass Castex sich intensiv um die unterfränkische Partnerstadt kümmern konnte. Schon unter Präsident Nicolas Sarkozy arbeitete Castex unter der Woche in Paris und war oft nur am Wochenende im 6000-Einwohner-Städtchen Prades.
Ein Herz für Kitzingen und für Europa
Bei Empfängen von Kitzinger Delegationen habe er sich immer um die Gäste gekümmert und versichert, wie sehr ihm an Europa und an der Partnerschaft mit Kitzingen liege. Allerdings hat er es bis heute nicht nach Unterfranken geschafft. Eine Einladung zum Kitzinger Weinfest musste er bislang immer ausschlagen, weil zeitgleich in Prades ein großes Fest gefeiert wird, zu dem er als Bürgermeister anwesend sein muss. Außerdem trennen die beiden Partnerstädte rund 1260 Kilometer – nicht eben ein Katzensprung, von der französisch-spanischen Grenze nach Unterfranken. Nach seiner Ernennung als Premier am vergangenen Freitag dürfte ein Besuch in Kitzingen noch unwahrscheinlicher sein.
Bei den Kommunalwahlen in Frankreich am 15. März dieses Jahres – am selben Tag, an dem auch in Bayern die erste Runde der Kommunalwahlen stattfand – wurde der Bürgermeister von Prades mit 75 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Schon im April wurde Jean Castex als Verantwortlicher für die Lockerungen in Zeiten der Corona-Pandemie nominiert.
Früher war er im Gesundheits- und Arbeitsministerium in Paris tätig. 2018 wurde er Generaldirektor der SNCF (Staatsgesellschaft der französischen Eisenbahn). Schon seit 2017 ist Castex als „M. Olympique“ Koordinator in den Ministerien für die Vorbereitung der Olympiade in Paris 2024.