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Wiesentheid
Internat als Familienersatz: Wie selbst junge Menschen aus Shanghai oder Ägypten im Landschulheim Wiesentheid landen
Manche finden zufällig nach Wiesentheid, andere ganz bewusst. Aber was bringt Jugendliche überhaupt ins Internat? Ein spannender Rundgang mit vier Schülerinnen und Schülern. 
Das Steigerwald-Landschulheim (Gymnasium) ist eines von zwei Internaten im Landkreis Kitzingen.  Vier der 75 Jugendlichen, die hier wohnen, sind (von links) Anna Schröder (Q12), Salma Elkashty, Arby Kress und Paul Runge (alle 10c).
Foto: Johannes Kiefer | Das Steigerwald-Landschulheim (Gymnasium) ist eines von zwei Internaten im Landkreis Kitzingen.  Vier der 75 Jugendlichen, die hier wohnen, sind (von links) Anna Schröder (Q12), Salma Elkashty, Arby Kress und ...
Andreas Stöckinger
Andreas Stöckinger
 |  aktualisiert: 08.02.2024 11:31 Uhr

Das Steigerwald-Landschulheim (LSH) in Wiesentheid gilt seit Jahrzehnten als Institution, auf das die Gemeinde stolz ist. Die Schul- und Internatsgebäude des Gymnasiums befinden sich – passend für ihre Bedeutung – unweit des barocken Ortskerns und integriert in eine Wohnsiedlung. Dort gehen neben den Lehrkräften und Angestellten täglich rund 500 Jugendliche ein und aus. Für 75 Mädchen und Jungen ist es zugleich ihr Zuhause. Sie leben im Internat, quasi Tür an Tür mit den Klassenzimmern.

Fotoserie

Die Wege innerhalb der Gebäude sind wirklich kurz, nicht nur vom Schulbereich zum Internat ist es ein Katzensprung. Im Flur neben dem Forum, das das Zentrum der Schule bildet, liegt das Büro von Andreas von Borany. Er ist seit 2017 in Wiesentheid und leitet seit eineinhalb Jahren das Internat. Dessen junge Bewohnerinnen und Bewohner kommen aus Deutschland und einem Dutzend anderer Länder. Ein leichtes Plus an Jungen habe man, sagen Borany und seine Stellvertreterin Simone Franzmann. Auf die Vielfalt legt das Gymnasium großen Wert, denn laut Leitbild versteht man sich als "Internatsschule mit internationaler Ausrichtung".

Simone Franzmann ist die stellvertretende Internatsleiterin im Steigerwald-Landschulheim.
Foto: Johannes Kiefer | Simone Franzmann ist die stellvertretende Internatsleiterin im Steigerwald-Landschulheim.

Das wird deutlich, wenn man sich mit Anna Schröder, Salma Elkashty, Arby Kress und Paul Runge trifft, vier Internatsschüler, die Wurzeln in vier Nationen haben. Beim gemeinsamen Rundgang mit Simone Franzmann zeigen sie ihre Räume und erzählen von sich und dem Alltag dort. Die vier fühlen sich nach eigenen Worten wohl im Internat. Der Gang durchs Haus lässt erkennen, dass sich in den letzten Jahren einiges getan hat. Früher, sagt Franzmann, lebten bis zu 250 Jungen und Mädchen im Wiesentheider Landschulheim. Heute sind es weniger als ein Drittel, so dass sie mehr Platz zur Verfügung haben.

Die Zimmer sind meist mit zwei Kindern oder Jugendlichen belegt, selten mit dreien. Manche der älteren haben ihre vier Wände für sich. Das sei zum zeitgemäßer und attraktiver, sagt Franzmann. Und Platz gibt es ja. 

Im nächsten Schritt sei man dabei, die gemeinschaftlichen Waschräume abzuschaffen. Ein Teil der Zimmer ist bereits mit eigenen Waschbecken ausgestattet, die anderen sollen folgen. "Wir wollen Räume schaffen, in denen die Schüler sich auch wohlfühlen", sagt die Erzieherin.

Zwei, höchstens drei Jugendliche sind in einem Zimmer untergebracht. Arby Kress (links) und Paul Runge teilen sich einen Raum.
Foto: Johannes Kiefer | Zwei, höchstens drei Jugendliche sind in einem Zimmer untergebracht. Arby Kress (links) und Paul Runge teilen sich einen Raum.

Die einzelnen Gruppen verfügen jeweils über eine gemeinsame Küche; neues Geschirr ist gerade eingetroffen. Die Küche gefällt den Internatsschülern, auch weil dort meist jemand anzutreffen sei. "Das ist nicht nur praktisch, wenn man abends noch Hunger hat. Die Küche ist eine Anlaufstelle, um ein bisschen mit anderen zu quatschen", erzählt Arby Kress.

Nicht weit davon entfernt liegt das Zimmer, das sich Arby mit Paul Runge teilt. Betten, Schrank, Tisch, Stühle, Regal, kein großer Schnickschnack oder Deko. "Wir sind da minimalistisch, nicht so wie die Mädels", sagt Arby und lächelt.

Die beiden Mädchen sind beim Gang durch die Jungen-Etage nicht dabei. Sie dürfen nicht in den Trakt der Jungen und stoßen erst wieder im Treppenhaus dazu, das zwischen den Trakten liegt. "Das ist der Treffpunkt für alle; hier ist immer was los", sagt Simone Franzmann. Kein Wunder: Der offene Bereich bietet viel Platz für Freizeit. Eine Tischtennisplatte und ein Tischkicker stehen dort neben Sofas und Stühlen.

Hell und geräumig: So sieht es in einem der Mädchen-Zimmer aus.
Foto: Johannes Kiefer | Hell und geräumig: So sieht es in einem der Mädchen-Zimmer aus.

Gleich darunter im Keller befindet sich mit dem Kino-Saal eine weitere beliebte Anlaufstelle. Den könne man mieten, um Filme zu schauen oder zu spielen. Am Wochenende sei hier viel los, erzählen die vier Schüler.

Oben im Gebäude befindet sich der Bereich der Mädchen. Auch deren Zimmer sind geräumig, viele haben ihren Bereich mit bunten Postern und Fotos geschmückt. Sie schätzen ebenfalls die Küche auf dem Stockwerk, hier werde öfter gemeinsam und international gekocht und gegessen, vor allem an den Wochenenden, erzählt Anna. Mitten in ihrer Gruppe, im Flur, hat Erzieherin Simone Franzmann ihr Büro, ganz ohne Abtrennung. Sie schätzt das Grenzenlose: "Das ist sehr kommunikativ."

"Wir sitzen nicht nur herum und hängen am Handy. Wir spielen oft zusammen Basketball oder Volleyball."
Salma Elkashty, Internatsschülerin

Später geht es zusammen über den Pausenhof, nur wenige Meter weiter. Salma Elkashty zeigt einen der Vorteile des Wiesentheider Internats: den Sportbereich. Salma spielt in ihrer Freizeit gerne in der Turnhalle Basketball oder nutzt den gut ausgestatteten Fitnessraum darunter. Das sei auch an den Wochenenden ohne Probleme möglich, sagt die 16-Jährige. "Wir sitzen nicht nur herum und hängen am Handy. Wir spielen oft zusammen Basketball oder Volleyball."

In einer der Sporthallen können sich die Schülerinnen und Schüler austoben, wie hier Salma Elkashty und Anna Schröder.
Foto: Johannes Kiefer | In einer der Sporthallen können sich die Schülerinnen und Schüler austoben, wie hier Salma Elkashty und Anna Schröder.

Die gemeinschaftliche Aktivität, die Gruppe fange bei den Jugendlichen vieles auf, aber nicht alles, sagt Internatsleiter von Borany. Das Heimweh melde sich schon manchmal, gerade für ausländische Internatsschüler sei die Situation nicht immer einfach. "Manche haben zehn Stunden Flug hierher; da kann man nicht schnell mal nach Hause." Viele reisten im Schuljahr nur zwei- oder dreimal zur Familie. Borany erzählt von einem chinesischen Schüler, der über mehrere Jahre kein einziges Mal daheim gewesen sei. Über Videochats oder WhatsApp habe er in dieser Zeit mit seinen Eltern kommuniziert.

"Man verlässt die gewohnte Umgebung, teilt sich ein Zimmer mit jemandem, hat fremde Erzieher und Lehrer. Das ist von null auf hundert."
Andreas von Borany, Internatsleiter in Wiesentheid

Das sei aber die Ausnahme. Generell, so Borany, habe er "riesigen Respekt, wenn junge Leute ins Internat gehen. Man verlässt die gewohnte Umgebung, teilt sich ein Zimmer mit jemandem, hat fremde Erzieher und Lehrer. Das ist von null auf hundert."

Natürlich seien nicht alles Engel im Internat. "Das ist ein bunter Haufen, viele Charaktere. Da gibt es auch mal Konflikte und Streit." Das gelte es dann eben zu klären oder zu sanktionieren. Generell seien die Gesellschaft und die Anforderungen komplexer geworden, sagt der Internatsleiter. Krisen wie Corona oder der Krieg in der Ukraine gingen nicht spurlos an den jungen Menschen vorbei. Das verändere die Jugend, und darauf müsse man Rücksicht nehmen.

Erst im Internat in St. Petersburg, dann in Wiesentheid

Die Gründe, warum Eltern ihren Nachwuchs ins Internat schicken, seien meist schulischer Natur, so der Leiter. Bei ausländischen Schülern werde zudem oft das Lernen der deutschen Sprache als Grund genannt, weil sie später hier studieren sollen. Als Beleg dafür kann man die vier Schülerinnen und Schüler nehmen, die den Rundgang begleiten.

Das selbstgestaltete Treppenhaus des Internats Wiesentheid ist oft Treffpunkt für die Schülerinnen und Schüler.
Foto: Johannes Kiefer | Das selbstgestaltete Treppenhaus des Internats Wiesentheid ist oft Treffpunkt für die Schülerinnen und Schüler.

So sind etwa Annas Eltern halb deutsch, halb russisch. Aufgewachsen in der Nähe von Lübeck, verbrachte sie später ein Jahr auf einem Internat in St. Petersburg, bevor sie 2021 nach Wiesentheid kam. Dort will die 18-Jährige in diesem Frühjahr ihr Abitur machen. Sie sei beim Suchen nach einem Internat in Deutschland eher zufällig auf Unterfranken gekommen. In Wiesentheid hätten sie die Gespräche mit der Leitung überzeugt.

Salma Elkashty ist Ägypterin. Sie kommt aus Kairo und besuchte dort von klein auf einen deutschen Kindergarten, später eine deutsche Schule. "Ich wollte schon immer auf ein Internat", erzählt die 16-Jährige. Von Bekannten ihrer Familie erhielt sie den Tipp mit Wiesentheid, wo sie jetzt seit September ist. "Mir gefällt es sehr gut hier; ich möchte bleiben bis zum Abitur", sagt sie in akzentfreiem Deutsch.

Von der 25-Millionen-Einwohner-City in die 3655-Seelen-Gemeinde 

Ungewöhnlich ist der Weg von Arby Kress. Der Deutsche mit einem philippinischen Elternteil lebte zuvor in der 25-Millionen-Einwohner-Stadt Shanghai. "Dort habe ich zwar Deutsch gelernt, meine Muttersprache ist aber Englisch. Ich dachte, ich will mal raus aus Shanghai und Deutschland kennen lernen." Ein Onkel von ihm wusste von Wiesentheid, dem 3655-Einwohner-Flecken in Unterfranken, der seit Herbst das Zuhause für den 16-jährigen Arby ist.

Genauso kurz ist Paul Runge (16), Arbys Zimmerkollege, im Internat des LSH. Paul stammt aus der Nähe von Forchheim, wo er das Gymnasium besuchte. Seine schulischen Leistungen dort seien nicht so gut gewesen. Er brauche etwas Druck, erzählt er von sich. Also habe er sich für den Weg nach Wiesentheid entschieden.

Internat mit Gymnasium

Das Gymnasium wurde im April 1945 als privates Realprogymnasium Wiesentheid auf Initiative des Oberstudienrates Hans Zander gegründet. 1947 begann der Schulbetrieb in Nebenzimmern von Gasthäusern, bis er dann 1949 ins frühere Lager des Reichsarbeitsdienstes verlegt wurde. Zunächst gab es lediglich drei Klassen.
1955 beschloss der Zweckverband Bayerische Landschulheime die Errichtung eines Schülerheims für 60 Jungen. Er übernahm 1956 das Realprogymnasium und baute es als neunklassige Oberrealschule aus. Der Name wurde in Steigerwald-Landschulheim geändert.
Die erste Erweiterung des Schülerheims wurde 1962 beschlossen. Der Umzug in die heutigen Bauten erfolgte im Jahr 1963. Um die Schule herum entstand ein Neubaugebiet. Die Schulgebäude wurden in der Folge mehrmals vergrößert.
Seit 1981 werden auch Mädchen im Internat aufgenommen; das Tagesheim besteht seit 1978.
Die Kosten für das Internat liegen zwischen 406 und 493 Euro monatlich.
Träger der beiden Gymnasien mit Internaten in Gaibach und Wiesentheid ist der Zweckverband Bayerischer Landschulheime mit Sitz in München. Zu ihm gehört außerdem das Landschulheim Kempfenhausen am Starnberger See sowie das in Schloss Issing am Ammersee.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand der Verband, weil viele Schulgebäude zerstört waren und zahllose Flüchtlingskinder unterrichtet werden mussten. Seit 1948 stellt der Verband sogenannte Landschulheime fernab der Städte als Orte des Unterrichts zur Verfügung.
Mitglieder des Zweckverbands sind der Freistaat Bayern, die Bezirke Ober- und Niederbayern sowie Unterfranken, die Landkreise Kelheim, Kitzingen, Schweinfurt, Starnberg und Traunstein.
Ebenfalls Mitglieder sind die Städte und Gemeinden Berg, Chieming, Ebrach, Gerolzhofen, Kelheim, Mainburg, München, Seeon-Seebruck, Volkach, Wiesentheid und Würzburg.
Quelle: Wikipedia und LSH
 
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