Justin Sonder war 17 Jahre alt, als er in die Hölle blickte. Im Februar 1943 wurde der Jugendliche, der aus einer jüdischen Familie in Chemnitz stammte, ins Vernichtungslager Auschwitz verschleppt. Er hatte Glück und überlebte Selektionen, Prügel und Schwerstarbeit. Sonder wurde später in Chemnitz/Karl-Marx-Stadt Kriminalpolizist. Im Januar dieses Jahres begleitete er Bundespräsident Christian Wulff bei dessen Besuch in Auschwitz.
In dieser Woche ist Justin Sonder, heute 85 Jahre alt, in Kitzingen zu Gast, was kein Zufall ist: Die Familie stammt aus Mainstockheim, als Kind war Sonder in den 30er Jahren öfter zu Besuch im Kitzinger Land. Wir sprachen mit dem Auschwitz-Überlebenden über Vergangenheit und Gegenwart.
Justin Sonder: Schon im März 1933. Wissen Sie, mein Vater war in der SPD, und in unserem Haus wohnte ein Spitzenkandidat der KPD. SA-Leute machten eine Haussuchung. Das ist meine erste Erinnerung. In der Schule dagegen war das Leben zunächst noch in Ordnung, sowohl, was die Klassenkameraden als auch was die Lehrer betraf. Das änderte sich dann aber auch. 1936 hatte ich bei einem Fußballspiel anlässlich der Olympiade in unserer Schule ein Tor geschossen. Bei uns war es üblich, dass die Torschützen auf den Schultern zur Siegerehrung getragen wurden, also auch ich. Da hat sich der Nazi-Schuldirektor fürchterlich aufgeregt, dass man das auch mit mir machte.
Sonder zu seinen Erlebnissen im Konzentrationslager
Sonder: Das war 1938. Wir wohnten ja im Zentrum von Chemnitz, unweit vom jüdischen Kaufhaus Schocken, das für seine moderne Architektur berühmt war. Dort wurden die Scheiben eingeworfen, dann hieß es, dass die Synagoge brennt. Es war der Tag nach der Pogromnacht. Wir haben uns für einen Tag im Osterzgebirge versteckt, dann sind meine Mutter und ich nach Chemnitz zurückgekehrt. Mein Vater hat sich noch wochenlang versteckt. Als die Gestapo kam, hat meine Mutter gesagt, er sei zu seinem kranken Vater nach Kitzingen gefahren. Später kam auch mein Vater zu uns zurück. 1942 wurden meine Eltern schließlich verhaftet.
Sonder: Das ging damals vielen jüdischen Jungen und Mädchen so. Wir mussten in der Rüstungsindustrie arbeiten. Im Februar 1943 hat man dann auch mich verhaftet, bei der sogenannten „Fabrikaktion“. Ich kam nach Auschwitz. Dort habe ich kurzzeitig meinen Vater wiedergetroffen. Er hat mir erzählt, dass die Mutter nicht mehr am Leben ist, dass sie vergast wurde. Danach habe ich meinen Vater wieder verloren. Er hat aber auch überlebt und starb an den Folgen der Haft 1949 mit nicht einmal 50 Jahren.
Sonder: Ja, ich hatte Glück, und es gab eine Reihe von Zufällen. Gleich am zweiten Tag im Lager habe ich einen kommunistischen Häftling getroffen, der auch aus Chemnitz stammte. Er hat mir Tipps gegeben, wie man im Lager überlebt, wie man sich beispielsweise bei Selektionen verhält. Wir wussten doch gar nicht, was eine Selektion ist. Worum es da ging, hat einem die SS ja nicht erzählt.
Dann stand ich einmal auf der Liste zum Vergasen, als ich gerade im Krankenrevier lag. Auch dort hatte ich riesiges Glück. Der Häftlingsarzt, er hieß Dr. Großmann, hat so lange mit der SS gesprochen und sich für mich eingesetzt, dass ich wieder von der Liste gestrichen wurde.
Sonder: Im Januar 1945 wurden wir von Auschwitz aus auf einen Todesmarsch geschickt, den viele nicht überlebt haben. Erst kam ich ins KZ Sachsenhausen, später ins KZ Flossenbürg in der Oberpfalz. Als die Amerikaner näher rückten, ging es wieder auf Todesmarsch. Ich wurde am 23. April 1945 befreit, als es zu einem Gefecht mit den Amerikanern kam. Wieder hatte ich großes Glück: Noch in den Morgenstunden desselben Tages hat die SS 1500 Häftlinge erschossen.
Sonder: Das war im Oktober 1944. Wir kamen von der Arbeit ins Lager zurück und sahen den Jungen, der die Schlinge schon um den Hals hatte. Wir hatten uns erst nicht vorstellen können, dass sie ihn wirklich aufhängen, aber sie machten es. Es war ein Grieche, er hatte das Brot während eines Alarms gestohlen. Wir hörten, wie er noch leise „Mama“ sagte, bevor er starb.
Sonder: Nein, und ich weiß, dass ich da wohl ein Einzelfall war. Wissen Sie, während der Zeit im Lager haben wir so ein Lied gesunden. In dem hieß es, dass uns die Heimat wiederhaben wird. Das hatte ich immer im Kopf. Ich wollte wieder zurück.
Sonder: Nach der Rückkehr bin ich zur SPD gegangen, in der schon mein Vater Mitglied war. Dort sagten sie mir: Solche wie Dich brauchen wir bei der Kripo. Erst durfte ich nicht, weil ich nach den sächsischen Gesetzen noch zu jung war. Nach Interventionen beim Innenminister habe ich dann mit 21 statt mit den geforderten 25 Jahren bei der Kripo anfangen dürfen. Später war ich für die ganz schweren Fälle zuständig, für Mord und Totschlag.
Sonder: Sehr selten. Ich habe eigentlich erst nach der Wende angefangen, bei Veranstaltungen aufzutreten und Vorträge zu halten.
Sonder: Damals habe ich oft meine Großeltern besucht. Ich weiß noch, dass es eine Zugverbindung Breslau-München gab, die über Chemnitz auch nach Kitzingen führte. In Kitzingen hat mich schon damals der Main fasziniert, dieser majestätische, ruhige Fluss. Ich habe oft den Flößern zugesehen oder den Frauen beim Wäschewaschen. Und von der Oberen Anlage aus habe ich mir den Bahnhof angeschaut. Einmal hat mich ein Lokführer mit auf seinen Führerstand genommen und ist mit mir ein paar Meter gefahren. Das hat mir zu Hause dann aber kein Mensch geglaubt.
Sondern zu NPD-Vertretern im Sächsischen Landtag
Sonder: Ich habe so etwas nicht für möglich gehalten, und ich bedauere das ganz stark. In Chemnitz gehe ich heute noch deswegen auf die Straße, ob zum Jahrestag der Bombardierung oder am 9. November.
Sonder: Nein, ich gehöre keiner Gemeinde an. Auch das hat mit Auschwitz zu tun. Ich sage immer: In Auschwitz hat mich Gott verlassen.
Irgendeiner hat einmal gesagt: Deutschland, das Volk der Dichter und Denker. Das steht im totalen Widerspruch zu dem, was sich Deutsche -mit weitgehender Billigung der damaligen Bevölkerung- "geleistet" haben. Ich weiß nicht, wie dieser Gegensatz jemals aufgearbeitet werden soll oder kann. Wenn er wenigstens zur Erkenntnis führt, dass diese braune Pest NIEMALS mehr kommen darf, wäre ich schon sehr zufrieden.
Mit hoffenden Grüssen.