
Der 17-Jährige ist auf der Stelle tot. Er stirbt als Geisterfahrer. Im Stadtzentrum von Kitzingen hat ihn eine Polizeistreife in einer Oktobernacht 2010 stoppen und kontrollieren wollen. Um sich dem zu entziehen, gibt der Jugendliche Gas. Im Auto seines Vaters flüchtet er über die Bundesstraße fünf Kilometer hinaus auf die A7. Dort ist er dann – zwischen den Anschlussstellen Kitzingen und Marktbreit – als Geisterfahrer in falscher Richtung unterwegs.
Wenig später passiert es: Der Audi 100 kracht auf einen entgegenkommenden Sattelzug. Das Auto wird völlig zerstört, der Motorblock herausgerissen. Die Fahrbahn: ein Trümmerfeld. Selbst der viel stabilere Laster ist schwer demoliert. Der 17-Jährige, der keinen Autoführerschein hat und nicht angeschnallt war, wird herausgeschleudert. Er ist auf der Stelle tot.
War es Panik oder Absicht?
War das falsche Auffahren auf die Autobahn Absicht – oder ein Versehen aus der Panik heraus? Es wird nicht die einzige offene Frage in einem Fall bleiben, der sich schnell als kaum fassbares Familiendrama entpuppen soll.
Die Polizei hat den Flüchtigen bei dessen Geisterfahrt zwischenzeitlich – bewusst – fahren lassen und aus den Augen verloren. Minuten später bietet sich ihnen ein grauenvolles Szenario. Nach dem tödlichen Unfall wollen die Beamten den Eltern in dem Kitzinger Stadtteil Repperndorf die traurige Nachricht überbringen. Trotz mehrerer Versuche öffnet niemand. Nachbarn versichern: das Ehepaar müsste da sein.
Die Beamten steigen deshalb am nächsten Morgen durch ein Kellerfenster in das massive Steinhaus ein. Begleitet von einer Ahnung, die sich im Obergeschoss umgehend bestätigen soll: Dort liegen zwei übel zugerichtete Leichen – die Eltern des 17-Jährigen. Brutal im Schlaf getötet vom eigenen Kind.
Die ausgelöschte Familie lebte zurückgezogen. Der 59-jährige Vater war alteingesessener Repperndorfer, der seinen Hof wegen einer schweren Erkrankung nicht mehr bewirtschaften konnte. Die Mutter war 50 Jahre alt und stammte aus Osteuropa – was für den Heranwachsenden auf eine ganz seltsame Art ein Problem gewesen sein muss. Später kommt heraus, dass er ihr öffentlich angedroht hat, sie „abzustechen“.
"Erhebliche kriminelle Energie"
Der 17-Jährige hat wenig Freunde, mehrfach wechselt er die Schule. Auf sein Umfeld wirkt er zunehmend aggressiv. Der Eindruck täuscht nicht: Im Juni stand er vor dem Kitzinger Jugendrichter, weil er an einem Auto Reifen zerstochen hat. Außerdem beschädigte er mit einer Eisenstange das Heckfenster eines weiteren Wagens.
Das Gericht attestierte ihm – im Beisein seiner Eltern, die in der ersten Reihe Platz genommen haben – „erhebliche kriminelle Energie“. Der Grund für die Taten löste Kopfschütteln aus: Weil er sich von zwei Mitschülerinnen gehänselt fühlte, rächte sich der Schüler im Oktober 2009 an deren Vätern. Dem einen zerstach er die Autoreifen, dem anderen zertrümmerte er die Heckscheibe. Das Gericht verhängte dafür – vier Monate vor dem Doppelmord und der anschließenden Todesfahrt – 80 Stunden soziale Hilfsdienste.

Mit Blick auf die anstehende Gerichtsverhandlung nahm der 17-Jährige freiwillig an einem Anti-Aggressionstraining teil. Die Maßnahme umfasste 25 Nachmittage. Der Jugendliche hielt durch, das Abschlussgespräch fand zwei Wochen vor jener verhängnisvollen Nacht statt.
Aufenthalt in Jugendpsychatrie
Für die Kitzinger Polizei ist der 17-Jährige schon geraume Zeit ein beschriebenes Blatt. Seit seinem sechsten Lebensjahr beschäftigte er das Jugendamt, dann auch Polizei und Gericht. Im November 2007 drohte das Problemkind – als 14-Jähriger – mit einem Gewaltakt an seiner Schule. Die Drohung gelangte damals nicht in die Öffentlichkeit. Als Konsequenz wurde der Schüler für zwei Wochen in einer Jugendpsychiatrie untergebracht. Eine der Familie angebotene weitere Unterstützung lehnte diese gegenüber dem Kitzinger Landratsamt ab.
Nach dem Realschulabschluss – drei Monate vor dem Doppelmord – findet der Jugendliche keine Ausbildungsstelle. Er entscheidet sich für eine einjährige Eingliederungsmaßnahme. In den folgenden Wochen braut sich etwas zusammen: Die Polizei wird mehrfach in die Ortsmitte von Repperndorf gerufen, weil es innerhalb der Familie zu Streit kommt. Die Hilferufe sollen jeweils von der Mutter gekommen sein.
In dem 17-Jährigen – der in einer amtlichen Einschätzung als „überbehütet“ und „sozial isoliert“ galt und scheinbar wie unter einer Käseglocke aufwuchs – muss eine tiefe Wut geschlummert haben. Anders lassen sich die Brutalität und das Beil kaum erklären.
Wollte er noch weitere Straftaten begehen?
Die Spurensicherer in ihren weißen Overall sind den gesamten Montag zugange. In einer Pause macht einer den anderen auf das in Stein geschlagene Motto an der Hauswand aufmerksam: „An Gottes Segen ist alles gelegen“ steht dort. Die fieberhafte Arbeit der Kriminalpolizei bringt schnell weitere Erkenntnisse: Der 17-Jährige hatte sich für rechtes Gedankengut interessiert, im Wohnhaus und in der angrenzenden Scheune sind an mehreren Stellen Hakenkreuze an den Wänden aufgesprüht, außerdem wurde eine Reichskriegsflagge aufgehängt.
Und: In dem völlig zerstörten Wagen fanden sich Einbruchs- und Fesselwerkzeuge sowie ein Messer und ein Beil. Für die Polizei Anhaltspunkte, „dass der Schüler unter Umständen noch weitere Straftaten begehen wollte“. Es spricht einiges dafür, dass er sich womöglich auf einem Rachefeldzug befand, als ihn die Polizei in jener Sonntagnacht kontrollieren wollte und es zu dem Familiendrama noch eine Todesfahrt kam.
Die gemeinsame Beerdigung von Täter und Opfern fand wenig später auf dem Alten Friedhof in Kitzingen statt. Rund 120 Menschen versammelten sich um das Familiengrab. Die drei Särge schmücken weiße Lilien. Die drei schlichten Holzkreuze versuchen eine verzweifelte Hoffnung auszudrücken: „Hier ruht in Frieden.“