
Marion Flügel ist keine Pessimistin. Aber wenn die Apothekerin die Lage auf dem Medikamentenmarkt analysiert, klingt das bedrohlich: „Du siehst die Titanic ganz langsam auf den Eisberg zufahren und hörst nur immer, es werde schon nichts passieren.“
Bernward Unger, Sprecher der unterfränkischen Apotheker, sagt: „Die Krankenkassen pressen das System aus, bis es ausgeblutet ist.“ Was bedeutet das für die Versorgungssicherheit der Patienten?
Fakt ist, dass aktuell bei 269 Medikamenten – darunter Schmerzmittel, Krebsmittel und Antidepressiva – ein Lieferengpass besteht. Das ist nachzulesen auf den Seiten des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte. Sowohl Bernward Unger (Weingarten-Apotheke Dettelbach) als auch Marion Flügel (Marien-Apotheke Wiesentheid, Apotheke am Markt in Schwarzach, Kronenapotheke Schweinfurt) sagen, die Lage sei schwierig, die Entwicklung „sehr gefährlich“.
„Die Arzneimittel, die fehlen, sind in den letzten Wochen spürbar mehr geworden. Darunter sind Allerweltsmedikamente, von denen man nie geahnt hätte, dass sie mal nicht herzukriegen sein würden“, stellt Unger fest. Flügel ergänzt: „Es ist überaus anstrengend und zeitraubend, wenn man Ware nicht kriegt und deshalb nach Ersatzprodukten fahnden muss.“
Auch die Patienten seien gezwungen, flexibel zu sein – statt Saft müsse man sich zum Beispiel mit Zäpfchen behelfen oder mit zermörserten Tabletten. „Unser System spart den Krankenkassen Milliarden, aber Apotheken, Hersteller und Patienten leiden.“ Das habe mit der Globalisierung zu tun, mit dem Auslagern von Produktionsstätten ins oft weit entfernte Ausland – und mit der Preispolitik in Deutschland.
Hat man ahnen können, dass es derartige Lieferschwierigkeiten geben könnte? Marion Flügel bejaht das: „Es gab schon vor Corona Schwierigkeiten – zum Beispiel hat man manche Medikamente nicht in der richtigen Qualität bekommen.“ Jetzt kommt erschwerend dazu, dass Lieferketten einfach abreißen. Ausfälle durch Corona oder Quarantäne, genereller Personalmangel, Hafen-Blockaden, nicht verschiffte Container, zusammenbrechende Logistik: „Jetzt kommt alles zusammen.“
Warum müssen wir überhaupt so viele Medikamente importieren? „90 Prozent der Arzneimittel werden nicht mehr in Deutschland hergestellt“, erklärt die Fachfrau. „Arzneimittelhersteller gehen dahin, wo sie am billigsten produzieren können – oft ist das nicht mal mehr in Europa, sondern in Indien und China, wo die Löhne sehr niedrig sind.“ Ethische Standards bei der Produktion? „Fehlanzeige.“
Sind also geizige Hersteller schuld am Dilemma? Marion Flügel schüttelt den Kopf und erklärt, dass gerade kleinere Hersteller selbst auch „Getriebene“ seien: Normalerweise forscht ein Hersteller erst einmal jahrelang, bis er die Zulassung für ein Medikament bekommt. In dessen Preis rechnet er die Forschungszeit ein. „Früher hatte dieser Preis zehn Jahre lang Bestand, so lange ging der Patentschutz.“
Mittlerweile überprüfe ein Bundesausschuss, in dem die Krankenkassen stark vertreten sind, schon nach einem Jahr, ob das Medikament wirklich so innovativ ist, dass der Patentschutz weiterhin bestehen soll. „Oft wird das dann verneint, um den Preis zu drücken. Das führt dazu, dass Hersteller ihr Produkt schon nach einem Jahr wieder vom Markt nehmen, weil sich dessen Produktion für sie nicht lohnt.“
Preis-Druck auf die Produzenten üben zudem die seit 2014 bestehenden Rabattverträge aus, zählt Marion Flügel weiter auf. Dieses Rabattsystem brachte den Krankenkassen große Einsparmöglichkeiten und sollte den Unternehmen große Absatzmengen garantieren.
Doch das System hat laut Marion Flügel gravierende Mängel: „Die Krankenkassen, von denen die großen natürlich die größte Marktmacht haben, schreiben Wirkstoffe aus und vergeben den Auftrag an den günstigen Anbieter. Alle anderen Produzenten – also die kleineren, die bei dem Niedrigpreis nicht mithalten können – kommen nicht zum Zug und stellen die Produktion ein.“
So entstünden quasi Monopole auf bestimmte Arzneimittel. „Was das für Folgen haben kann, haben wir 2016 gesehen, als in China eine Firma explodierte und danach die Antibiotika-Kombination Piperacillin/Tazobactam weltweit fehlte.“
Ein aktuelles Beispiel seien Fiebersäfte. „Hier gibt es nur noch ganz wenige Hersteller. Das ist fatal.“ Corona und der Ukraine-Krieg, die Erhöhung von Glas-, Papier- und Umkartonpreisen tun ihr Übriges: „Wer günstige Arzneimittel wie Ibuprofen-Säfte herstellt, bei denen die Gewinnmarge ohnehin minimal ist, legt drauf.“
Manche Pharmakonzerne verkaufen längst lieber ins Ausland, weil sie dort mehr verdienen als im preisgedrückten Deutschland, erklärt Apothekensprecher Unger. „Vor zehn, 20 Jahren hat Deutschland im relativ großen Stil Re-Importe aus dem Ausland gekauft, jetzt ist es umgekehrt.“ Das sei eben auch eine Folge des Spardrucks der Krankenkassen: „Viele Medikamente sind im Ausland zu kriegen, aber wenn die deutschen Krankenkassen zu wenig vergüten, dann sagt der Hersteller, ich liefere lieber anderswohin.“
Wie aber könnte man die Lage ändern, die globalen Abhängigkeiten reduzieren? „Es wäre sinnvoll, wenn wir Apotheker nicht nur die Erfüllungsgehilfen der Krankenkassen wären“, sind sich Marion Flügel und Bernward Unger einig. Das wäre etwa der Fall, wenn der Arzt – wie etwa in der Schweiz – nur den jeweiligen Wirkstoff verschreiben würde. „Wir würden dann schauen, was für den Patienten das Beste und Günstigste ist. Wir haben den nötigen pharmazeutischen Sachverstand und verdienen nicht mehr dran, wenn ein Medikament teurer ist“, erklärt Marion Flügel, die gern auch die Umweltbilanz und die Zustände in den Produktionsländern in die Beratung einfließen lassen würde.
Sie könnte auch dem „Sachleistungsprinzip“ einiges abgewinnen: Der Kunde zahle das vom Arzt verschriebene Medikament erst einmal selbst und hole sich sein Geld dann von Krankenkasse.
Bernward Unger erinnert daran, dass es schon zu Beginn der Corona-Pandemie hieß, man müsse Produktionsstätten zurück nach Deutschland oder zumindest Europa holen. „Passiert ist… nix!“
Auch für Unger ist es unumgänglich, dass das „gesamte System auf den Prüfstand“ muss. „Geiz ist geil, das darf es nicht mehr geben. Wir brauchen ein Umdenken auf allen Ebenen.“ Marion Flügel formuliert es so: „Das Gesundheitssystem muss als hoheitliche Aufgabe gesehen werden. Es muss nachhaltiger werden und nicht nur dem Markt untergeordnet sein.“ Ansonsten – das habe sich erst kürzlich gezeigt, als das Brustkrebsmedikament Tamoxifen nicht mehr lieferbar war – „wird es Leben kosten“.


