Er hatte gerade das Abitur erfolgreich bestanden und war seinem Berufsziel, Benediktiner und Missionar zu werden, näher gekommen: Anton Kram aus Nordheim am Main hatte die erste große Etappe in seinem Leben erreicht. Dazu gratulierte dem „lieben Anton“ Abt Plazidus Vogel aus der neugegründeten Abtei Münsterschwarzach am 16. Juli 1914 per Brief: „Dein Erfolg freut mich, noch mehr aber freue ich mich, daß Du auch entschlossen bist, Deinem heiligen Berufswunsch treu zu bleiben und mit uns zu arbeiten.“
Seine Nachkommen, die Familie Steinmetz aus Nordheim am Main, haben diesen Brief, Zeitungsausschnitte und ein paar Fotos aufbewahrt als Andenken an den jungen Mann – auch nach 100 Jahren. Und anders als von vielen Millionen anderer gefallener Soldaten blieb von ihm mehr als nur ein Name auf einem Kriegerdenkmal. Denn ein Lebenslauf erschien in den „Missionsblättern“, Jahrgang 1915. Diese Zeitschrift ist eine Art Jahresbericht aus den Benediktinerklös-tern, die von der Erzabtei St. Ottilien (am Ammersee) um die Jahrhundertwende gegründet wurden. Dazu gehörten auch St. Ludwig bei Wipfeld und die Abtei Münsterschwarzach.
Krams Schicksal war deshalb für die Benediktiner von Interesse, weil sein Tod ein „Erstlingsopfer“ war: Er war der erste Klosterschüler und zukünftige Novize, der im Krieg fiel. Sein Berufswunsch hatte schon in jungen Jahren festgestanden. Die Voraussetzungen waren für damalige Zeiten gut. In einer angesehenen Kaufmannsfamilie kam er am 18. April 1894 als erstes von insgesamt vier Geschwistern in Nordheim am Main zur Welt. Die Leute nannten seinen Vater „Ökonomierat“. Die Eltern unterstützen ihren Sohn, als man in der Elementarschule seine Begabungen erkannte.
1906 bereitete ihn sein Onkel, Pfarrer Josef Kram in Röthlein, besonders in Latein auf die Höhere Schule vor. Eigentlich wollte der junge Anton in das Missionsseminar St. Ludwig, dem Vorgängerkloster von Münsterschwarzach, aber wegen Umbaumaßnahmen musste er gleich in die dritte Klasse ins niederbayerische Kloster Schweiklberg. Nach der fünften Klasse siedelte er nach St. Ottilien um, wo er sich „das volle Wohlwollen seiner Lehrer erwarb und mit gutem Erfolg seine Studien zu Ende führte“, heißt es im Nachruf. Nach ein paar Wochen Sommerferien sollte er in Münsterschwarzach als Novize eintreten.
Doch dann der plötzliche Umschwung. Antons Vorgesetzte waren nicht wenig überrascht, als der stille und zurückhaltende junge Mann sich als erster „aus unseren Reihen freiwillig zum heiligen Kampfe meldete“. Er hätte es nicht tun müssen. Wurde er angesteckt von dem damaligen, allgemeinen Kriegstaumel? Anton Kram schreibt in einem Brief, er habe diesen Schritt nicht „in einem Augenblick überschwenglicher Begeisterung“ getan. Ihn hätten vielmehr „höhere Beweggründe“ geleitet, die er aber nicht erläuterte.
Anton zog in die Kaserne nach Würzburg, wo er in der 10. Kompanie des 4. Bayerischen Reserve-Infanterie-Regiments eine vierteljährige militärische Ausbildung bis zum Dezember 1914 absolvierte. Dann „ging Antons heißester Wunsch in Erfüllung, er durfte an die Front“, schreibt der Chronist. Und diese lag in den bergigen Argonnen, einem der großen und blutigsten Kriegsschauplätze gleich zu Beginn des Krieges.
Am 8. Februar 1915 schrieb er eine Karte an seine Eltern, die den schmächtigen Toni mit seiner Kompanie zeigt: „So schaute ich zwei Wochen nach unserer Ankunft aus; Schnurla, Bärtchen – die könnten noch viel vertragen. Es grüßt Euch alle herzlich Anton.“ Nichts vom Kriegsalltag und seinen Belastungen ist da zu lesen, sondern nur ein scheinbar belangloser oder ablenkender Satz. Wahrscheinlich wollte er seine Lieben zuhause nicht unnötig belasten, aber es war immerhin ein Lebenszeichen. Wie es wirklich um ihn stand, deutete er in Briefen an seine künftigen Vorgesetzten in der Abtei Münsterschwarzach an.
Winterliche Kälte, vom Regen aufgeweichter Boden, strapaziöse Bergaufstiege, blutende und tote Körper und die ständige Todesgefahr machten dem kränklichen und schwächlichen jungen Soldaten aus Franken psychisch zu schaffen. „Manchmal möchte man fast zusammenbrechen“, schreibt Anton ins Kloster und fügt ernüchtert hinzu: „Mit Begeisterung und jugendlicher Freude habe ich mich zum Kriegshandwerk gemeldet, mit opfervoller Bereitwilligkeit will ich auch das Los weiter tragen“. Hilfe war ihm dabei, wie er sagte, sein Glaube und der unbedingte Wille, Mönch und Priester zu werden.
Deshalb vermied er lebensgefährliche Einsätze, denn „ich habe schon so viel gekostet, daß es unverantwortlich wäre, nach einem Eisernen Kreuze zu streben“, schrieb er Anfang Januar 1915 nach Münsterschwarzach. Er schrieb aus der Gegend um das lothringische Saint-Mihiel. Dort befand sich ein heftig umkämpfter deutscher Frontvorsprung, wo Anton Kram bei den blutigen Schlachten zwischen Maas und Memel im April 1915 eingesetzt war.
Bereits im Januar wurde sein Unterstand von einem Blindgänger zertrümmert, ein Balken fiel auf seinen Fuß. Seither quälte er sich mit einer schmerzhaften und nicht heilenden Verwundung herum. „So konnte Anton die Leiden des Krieges in vollstem Maße kosten“, kommentierte verklärend der Nachrufschreiber im noch immer kriegsbegeisterten Deutschland.
Am 6. April morgens „befand sich Kram in einer rückwärtigen Linie, die schon länger unter feindlichem Feuer stand“, ist zu lesen. Einige Meter hinter der Linie schlug eine Granate ein. Splitter drangen in Anton Krams Gehirn. Der noch nicht ganz 21-jährige Nordheimer war sofort tot. „Kameraden bestatteten ihn alsbald zur letzten Ruhe“, schließt der Chronist. Seine Verwandten besuchten vor etwa 15 Jahren sein Grab in Saint-Mihiel und stellten ein rotes Grablicht im Soldatenfriedhof auf.
Antons Name und Lebensdaten sind auch im Nordheimer „Kriegerdenkmal“ eingemeißelt mit dem Hinweis „Kriegsfreiwilliger“. Nur noch ein weiterer junger Mann aus dem Ort hatte sich freiwillig in den Krieg gemeldet: Rudolf Göb, der schon am 5. September 1914 fiel. Und ein anderer Landsmann war nur einen Tag vor Anton Kram gefallen, ebenfalls in den Schützengräben um Saint Mihiel. Von ihm sind nichts weiter bekannt als Name und Alter: Unteroffizier Alois Glos.