Christel Hüttner kann es nicht lassen. Sie verspürt so viel kreative Energie in sich, dass sie auch jetzt, nach bald schon 15 Jahren Ruhestand, weiter Musik machen muss – und zwar ohne Vergütung. Schon mehrfach hatte die Kulturpreisträgerin der Stadt Kitzingen und ehemalige Kirchenmusikdirektorin der Evangelischen Stadtkirche Kitzingen in den vergangenen Jahren Kantaten von Johann Sebastian Bach, aber auch große Oratorien von Mendelssohn Bartholdy oder Brahms mit Projektchören aufgeführt.
Nun aber hatte ihr dieses kleine Virus, das uns allen den Atem raubt, mehrfach einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht: Bereits vor zwei Jahren war alles geplant, die Probentermine standen, die Kirche war reserviert, und das Orchester hatte den Termin zugesagt, die erste Probenwoche war vorbei. Dann kam der erste Lockdown – und nichts war mehr möglich. Hüttner ließ sich nicht unterkriegen und setzte in den folgenden Monaten immer wieder Proben mit dem Projektchor an, sobald die Lage es erlaubte. Viermal aber wurde sie ausgebremst.
Für das fünfte Mal stehen die Chancen gut. Am 7. Mai soll jetzt "Die Schöpfung" von Joseph Haydn (1732-1809) in der Kirche St. Veit in Iphofen aufgeführt werden. Die pandemische Situation scheint sich langsam so zu entspannen, dass die Sache durchaus von Erfolg gekrönt sein könnte. Die ersten Proben sind geplant, schon 60 Chorsängerinnen und -sänger aus allen Ecken Deutschlands, 17 bis 70 Jahre alt, haben sich angemeldet. Dazu kommt noch der Chor des Egbert-Gymnasiums Münsterschwarzach mit weiteren 22 jungen Stimmen, einstudiert von Musiklehrerin Mechthild Binzenhöfer.
In drei Probenphasen, unter anderem in der zweiten Osterferienwoche, soll das Werk in Iphofen erarbeitet werden. Die Chorsänger wohnen dann in Quartieren in der Stadt, wenn sie nicht aus dem Landkreis kommen. Hüttner zur Seite stehen Erna Anderl-Fröhlich von der Gemeinde St. Veit, die die Organisation übernommen hat, Timo Lechner für die Pressearbeit und Ingrid Büchold, die unter anderem das Plakat entworfen hat. Musikalisch unterstützt wird sie in den Proben von Johannes Feller, der die Sänger am Klavier begleitet; Gesangspädagogin Olga Jakob übernimmt die Stimmbildung. Einen Einführungsvortrag hält Peter Buß-Hüttner.
Man fragt sich, wie Christel Hüttner, die ja als Endsiebzigerin nicht mehr zu den Jüngsten zählt, das alles schafft. "Es ist der Umgang mit Menschen und Musik, der mich antreibt, die Rücksprache, der Austausch, das Geben und Nehmen", sagt sie. Ein innerer Motor gebe ihr die Kraft, sie brauche immer wieder etwas Neues, um ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen. Gerne geht sie aber auch allein spazieren, geht schwimmen oder findet Anregung in der Natur. Dabei hört sie innerlich Musik, und es kommen ihr oft interpretatorische Ideen zu den Werken.
Sie kann Töne quasi als Farbe und Formen sehen
Überhaupt bestimmt die Musik ihr Denken und Fühlen. Christel Hüttner ist Synästhetikerin, das heißt: Sie kann Töne als Farbe und Formen vor dem inneren Auge sehen. Ein Luxus, Ausdruck eines komplett vernetzten Gehirns und eine Gabe, über die nur vier Prozent aller Menschen verfügen. Hört sie Musik, bauen sich vor ihr Bilder auf – ein wichtiger interpretatorischer Ansatz, von dem aus sie arbeitet. Wichtig ist ihr das gesamte Umfeld eines Werkes, vor allem der theologische Zusammenhang.
Dabei kommt sie nicht aus einem Elternhaus, in dem ständig musiziert wurde. Sie ist aufgewachsen in Ottenheim bei Lahr im Schwarzwald, direkt am Rhein, eine eher bäuerliche Umgebung. Der Vater war Seiler und stand mit den Beinen mitten im Leben. Letztlich war es der Dorflehrer, der immer so schön in der Kirche Orgel spielte, der Christel Hüttners Liebe zur Musik weckte. Schon bald gab er ihr Orgelstunden. Über Umwege kam sie erst zur Musik als Beruf. Hauptschule, Haushaltsschule, Abitur und ein Studium zur Grundschullehrerin schloss sie ab, bevor sie durch Professorin Renate Zimmermann und deren Mann, den bekannten Komponisten Heinz Werner Zimmermann, entdeckt wurde.
Die große Steinmeyer-Orgel war 35 Jahre ihr Instrument
Ein Vorspiel in der Ottenheimer Dorfkirche führte zu einem Stipendium, das ihr das Studium bis zur A-Prüfung in Berlin ermöglichte. Der Vater reagierte zunächst skeptisch: "Du wirst das Wasser an die Supp’ net verdiene." Doch die Mutter befürwortete den Plan mit den Worten: "Lass das Kind, es wird sonst nie glücklich!" Nach dem Studium übernahm Christel Hüttner die A-Stelle in Kitzingen, wo sie 35 Jahre lang blieb. Die Bedingungen waren gut, die große Steinmeyer-Orgel "ihr" Instrument.
Sie konnte neben den normalen Diensten und der Leitung des Posaunenchores zwei Mal im Jahr große Oratorien aufführen. Bis 2007 hatte die Paul-Eber-Kantorei mehr als 100 Mitglieder, berühmte Orchester waren da, namhafte Solisten. Aber auch danach ging es immer weiter: mit einer Vertretung der A-Stelle an St. Johannis in Schweinfurt oder der Leitung des Singkreises von St. Johannis in Würzburg bis heute.
Für das große Oratorium von Haydn halten alle zusammen
Noch immer steht sie in regelmäßigem Kontakt mit dem Leiter des Konzertchors Darmstadt, Professor Wolfgang Seeliger, um sich mit ihm über interpretatorische Details auszutauschen. Das große Oratorium von Joseph Haydn wird mit dem Consortium Musicale aufgeführt, einem Orchester, in dem auch Lehrende und Studierende aus Würzburg unter der Leitung von Professor Herwig Zack spielen. Die Stadt Iphofen unterstützt die Aufführung großzügig, die katholische Kirchengemeinde St. Veit öffnet ihre Türen dafür – alle halten zusammen.