Ein rustikales Ledersäckle, einen verschwiegenen Wirt und einen standfesten Tisch – mehr braucht es nicht, um eine uralte fränkische Tradition fortzuführen. Eine Tradition, die vom Aussterben bedroht ist. Obwohl sie – davon sind ihre Anhänger überzeugt – unglaublich wichtig ist für die seelische Ausgeglichenheit der Teilnehmer. Und damit für eine intakte Ortsgemeinschaft. Es ist Sonntagvormittag, 11 Uhr. Ein Besuch im "Grünen Baum Castell".
Der "Grüne Baum" - schmuckes Fachwerk, zweckmäßige Einrichtung, uriger Biergarten - steht gleich neben der Kirche. Bis in die 1980er-Jahre war es gang und gäbe, dass die Mannsbilder nach der Sonntagsmesse erst mal ins Wirtshaus abbogen. Der Stammtisch war ihnen mindestens so heilig wie der Gottesdienst. Längst hat sich beides geändert. Doch in Castell feiert der "Stammtisch Grüner Baum" heuer 50. Geburtstag. Noch immer wird hier jeden Sonntag voller Leidenschaft Politik gemacht und leeres Stroh gedroschen. Am massiven Eichentisch geben die langjährigen Mitglieder Werner Wehrwein, Kurt Goldfuß und Jochen Kramer spannende Einblicke in Männerseelen.
1. Was ist der Sinn und Zweck des Stammtisches?
Im Gegensatz zu organisierten Vereinen mit festgelegten Zielen "geht es bei uns einfach nur um angenehmen Zeitvertreib und Geselligkeit", sagt Jochen Kramer. "Wir treffen uns zum Austausch neuester Nachrichten und Begebenheiten im Ort." Gleichberechtigt daneben stehe die "sinnfreie" Unterhaltung. "Wir beschäftigen uns mit allem, was uns beschäftigt." Je nachdem gehen die Gespräche mal in die Tiefe, mal nicht. Ganz wichtig ist der seit dem Gründungsjahr 1973 unverrückbare Grundsatz: "Was am Stammtisch geredet wird, bleibt am Stammtisch."
2. Wer darf am Stammtisch sitzen?
"Die Mitglieder entscheiden gemeinsam, ob sie jemand Neues aufnehmen oder nicht", erklärt Kramer. "Nur wenn sich alle einig sind, wird der Betreffende eingeladen." Eine formelle Aufnahme-Prozedur gibt es nicht. Und es kann auch keiner einen Antrag auf Aufnahme stellen.
3. Warum sind keine Frauen dabei?
"Bei uns herrscht Gleichberechtigung!", stellt Kurt Goldfuß klar. "Von Anfang an waren Frauen zugelassen!" De facto ist sonntags allerdings höchst selten ein weibliches Wesen dabei. "Aber dürfen täten sie!" Jochen Kramer formuliert es so: "Früher, zu Zeiten unserer Väter, mussten die Frauen kochen, weil sonntags um 12 das beste Essen der Woche auf dem Tisch stehen sollte." Wehe, die Männer waren nicht pünktlich daheim! Dann gab es "Brozzelsuppe mit Glotzaachn", will heißen: Die Frauen waren sauer. "Als Ausgleich fürs Sonntagskochen trafen sich die Frauen montagnachmittags zum Kaffeeklatsch." Heute bewirke die Gleichberechtigung, dass die Frauen dem Frühschoppen fernbleiben, weil sie keine Lust darauf haben. "Sie mögen lieben andere Aktivitäten unseres Stammtischs."
4. Was sind das für Aktivitäten?
Werner Wehrwein, Stammtischler seit 1985, zählt auf, was es schon alles gab: Silvester- und Faschingsfeten, Hasenpfefferessen, Bremserfeste, Wanderungen, Ausflugsfahrten "bis rauf nach Hamburg und ins Elsass" sowie zu der Brauerei, die dem Grünen Baum das Bier liefert, und nach Garstadt ins Weingut der gebürtigen Castellerin Inge Paul. "Besonders beliebt war der jährliche Schlachttag."
5. Was hat es mit dem Schlachttag auf sich?
Ein Schwein wurde gekauft, der Metzger bestellt – Wolfgang Kaul aus Castell oder Heinrich Ackermann aus Wiesenbronn – "und dann wurde einen ganzen Tag lang gewurstelt, gegessen und getrunken", so Werner Wehrwein. Gegen Mittag war das Kesselfleisch soweit, gegen Abend gab es Schweinehack und Bratwürste. Kurt Goldfuß erinnert sich: "Ich hab' mich immer drum gekümmert, dass der Kessel gekocht hat, der Hüßners Hans war fürs Drehen und Abschmecken der Bratwürste zuständig…" Am Folgetag erhielt jedes Stammtischmitglied seinen Anteil Wurst und Fleisch. Das letzte Schwein wurde 2018 im Grünen Baum geschlachtet. Danach wurden die behördlichen Auflagen so streng, "dass der Schlachttag ein Opfer der Bürokratie geworden ist".
Welche Rolle spielt Alkohol am Stammtisch?
"Jeder trinkt, was er will. Ich zum Beispiel trink' gar keinen Schnaps", stellt Kurt Goldfuß fest. Werner Wehrwein ergänzt: "Wenn man Geburtstag hat, gibt man einen aus, und die Leute bedanken sich gesanglich: 'Werner, wir danken dir, für diese Runde hier. Wenn du noch eine gibst, ham wir dich noch mal so lieb…' Es gibt aber trotzdem immer nur eine Runde!"
Ist der Wirt des Stammlokals automatisch Stammtisch-Mitglied?
"Bei uns ja", berichtet Kurt Goldfuß. Er erinnert sich gut an die erste Wirtin Johanna Meyer: "Sie war immer ganz grad naus. Als Bu' hatte ich Mordsrespekt vor ihr." Nicht immer war sie freundlich. "Aber getratscht hat sie nie. Geheimes war bei ihr sicher." Als Johanna Meyer 2011 starb, trauerten die Stammtischler sehr. Johannas Neffe Herbert Meyer-Appold führte das Lokal im Sinne seiner Tante weiter. Als auch er 2019 überraschend starb, brachen bewegte Zeiten an – erst recht, als Corona die Gasthäuser lahmlegte. Mittlerweile ist Herberts Sohn Jan Appold Wirt im Grünen Baum. Wenn er in seiner Heimat Hamburg weilt, springt Sascha ein; der Ukrainer und seine Familie sind vor Putins Krieg geflohen – und im Grünen Baum gelandet.
Gibt es etwas, das sich am Stammtisch nie ändern wird?
"Der Lederbeutel", meint Jochen Kramer grinsend. Sonntag für Sonntag wirft jeder Stammtischbruder seinen Obolus – 50 Cent – in das handgemachte Ledersäckchen. Mit dessen Inhalt finanzieren die Stammtischler ihre Aktivitäten. "Und noch was bleibt bestehen: Herberts legendäre Sprüch', wie: 'Ich habe zwar keine Lösung, aber ich bewundere das Problem.'"
Wie lange wird es noch fränkische Stammtische geben?
"Ich hoffe, noch lange. Sie sind eine sinnvolle Einrichtung", findet Werner Wehrwein. "Egal, in welcher Verfassung man hingekommen ist: Man geht ausgeglichen heim." Salomonisch urteilt Jochen Kramer: "Ob Stammtische wie unserer eine Zukunft haben oder im Kommunikations-Wirrwarr – WhatsApp und so weiter – untergehen, bleibt abzuwarten. Für mich wird der persönliche Kontakt immer wichtig bleiben." Corona habe gezeigt, wie wesentlich Lebensfreude und Geselligkeit für das Miteinander der Menschen sind. "Die Stammtische leisten dazu einen wichtigen Beitrag."