Sie liegt auf dem Rücken, den Blick nach oben gerichtet. Der sattgelbe Bikini über ihren knochigen Schultern bildet einen leuchtenden Kontrast zu ihrer dunklen Haut. Der Himmel über der Frau strahlt in verschiedenen Formen in Lila, Gelb, Rot, Orange und Grün.
So malt Michaela Steinhauser am liebsten – realistisch kombiniert mit abstrakten Hintergründen. Die gebürtige Wiesentheiderin lebt und malt seit knapp neun Jahren in Ecuador im Nordwesten Südamerikas.
Persönlich kennt sie die dunkelhäutige Dame, deren Porträt über ihrem Küchentisch in Banos hängt, nicht. Für die Köpfe ihrer Figuren sucht die 31-Jährige oft nach Vorlagen in Zeitschriften oder Bildbänden. Im Holzregal neben dem selbst bemalten Küchentisch stapeln sich neben deutschen Romanen Bücher wie „1001 Gartenpflanzen“ und „Berliner Zoo“. Auch das Nachbarsmädchen Insa hat sie porträtiert. Für das Bild, das sie nach einem Foto gemalt hat, hat sie rund zehn Tage gebraucht – die Achtjährige hätte nicht so lange still sitzen können.
Dabei sind zehn Tage Rekordzeit. An ihrem derzeitigen Auftrag im Spa „El Refugio“ malt Michaela schon gut zwei Jahre. Im Moment verwandelt sie eine Wand in ein Gebirge aus Braun- und Orangetönen. Als Vorlage dient ihr ein Kalender, der das Tibesti-Gebirge im Tschad (Südafrika) zeigt.
Vor den grauen Betonwänden, die sie in bunte Landschaften mit Wasserfällen, Kolibris und Vulkanen oder fantastische Fabelwelten verwandelt, beschäftigte sie sich mit einem viel feineren Material: Von 2000 bis 2004 ließ Michaela Steinhauser sich an der Porzellanfachschule im oberfränkischen Selb zur staatlich geprüften Dekorentwerferin ausbilden. Danach hatte sie die Nase voll von Porzellan. Und von Oberfranken. Auch Deutschland musste es nicht mehr sein, „hier hätte ich außer weiter Geschirr zu bemalen, nicht viel machen können“, sagt sie.
Ballast abwerfen, einfacher leben
Sie wollte außerdem Ballast abwerfen, einfacher leben. „Man hat viel mehr als man braucht“, sagt sie. Sie selbst hat bis heute weder Handy, noch Computer oder Auto – und vermisst es auch nicht. Im Gegenteil. „Viele hier leben besser als ich“, sagt sie und deutet auf die Mikrowelle, den Toaster, den Mixer – alles von ihrer Mitbewohnerin Irene. „Ich bräuchte das alles nicht.“ Eine Weile hat sie sogar ohne Kühlschrank und eigenes Bad gelebt – „das ging gut“, sagt sie.
Nach ihrer Ausbildung in Selb wusste die 31-Jährige erstmal nicht, was tun. Sie blätterte in einem Magazin des Arbeitsamts und stieß auf die Anzeige eines Reisebüros in Ecuador, das Praktikanten suchte. „Da hab ich ja überhaupt keine Ahnung“, dachte Michaela – und schickte eine Bewerbung. Prompt klingelte am nächsten Tag das Telefon, am anderen Ende war ihr zukünftiger Arbeitgeber. Er suchte jemanden im kreativen Bereich des Reisebüros, der Flyer und Prospekte entwerfen sollte. Michaela sagte zu und flog schon drei Monate später nach Saquisilí, ein kleines Andenstädtchen in der Provinz Cotopaxi, rund zweieinhalb Stunden südlich der Hauptstadt Quito.
Ein Jahr zuvor hatte sie bereits ein sechswöchiges Praktikum in einer kleinen Porzellanmanufaktur in der Hauptstadt gemacht. Schon damals haben sie das Land und seine Natur überzeugt, die mit ihrem feucht heißen Regenwald, den saftig-grünen Wiesen, den von Eis bedeckten oder lavaspuckenden Vulkanen und kilometerlangen Sandstränden zu den vielfältigsten des amerikanischen Kontinents gehört. Vielfältig, aber arm.
Mindestlohn von 300 US-Dollar
Das monatliche Durchschnittsgehalt eines Ecuadorianers betrug 2004 rund 140 US-Dollar. Präsident Rafael Correra, seit 2007 im Amt, führte zwar einen gesetzlichen Mindestlohn von etwa 300 USD ein, dennoch gelten immer noch rund 40 Prozent der Bevölkerung als arm. Dass jemand Geld für Malerei ausgibt, hielt Michaela für unwahrscheinlich.
Darum konzentrierte sie sich zunächst auf ihr Praktikum im Reisebüro, das ein Jahr dauern sollte. Doch das stellte sich schnell als Flop heraus. Bezahlung, Unterkunft, Verpflegung – alles war nicht so, wie es versprochen worden war. Nach acht Wochen kündigte sie, mit ihr gingen fünf weitere Praktikantinnen. Ohne Ziel und Plan zogen sie zunächst gemeinsam ins 20 Minuten entfernte Latacunga. Ein paar Wochen lebten sie zu siebt in einer Wohngemeinschaft, bis Michaela Juan Carlos Silva kennenlernte.
Der 28-Jährige war gerade dabei, in Ambato, Hauptstadt der Provinz Tungurahua, eine Bar zu eröffnen. Weil sie nichts zu tun hatte, bot Michaela an, die Wände zu bemalen. Zwei Monate lang pinselte sie Star- Wars-Motive auf grauen Grund. Dabei merkte sie: „Das liegt mir, das könnte man auch anderen Leuten anbieten.“ Sie fotografierte ihr Werk und zog mit den Fotos einen Tag lang durch die Hauptstadt Quito, um ihre Arbeit als Fassadenmalerin anzubieten. Doch Fehlanzeige. Die meisten fanden ihre Sachen zwar gut, einen Auftrag bekam sie aber nicht.
„Dann eben in Banos“, dachte die damals 23-Jährige, setzte sich in den Bus und fuhr die dreieinhalb Stunden in die 17 000-Einwohner-Stadt zu Füßen der Anden. Wegen seines milden Klimas, zwei schwefelhaltigen Kurbädern, den grünen Hügeln mit Wasserfällen ringsum, dem Vulkanriesen Tungurahua, einer quirligen Kneipenstraße, vielen Freizeitangeboten und der Basilika der „Jungfrau des heiligen Wassers“ ist das Städtchen ein beliebtes Touristenziel.
Und wo viele Touristen sind, eröffnen auch viele Bars und Hotels. Wieder zog Michaela durch die Straßen, zeigte Fotos. Einer, Oswaldo Vega, willigte schließlich ein, sie einen Entwurf für eine 20 Meter lange Wand in seiner Disco machen zu lassen. Auf ihren gemalten Vorschlag – feiernde Menschen mit Wasserfällen im Hintergrund – warf Oswaldo Vega einen Blick und sagte: „Am Montag geht's los“. Fünf Wochen lang malte sie an ihrem ersten Auftrag. Und fiel auf.
Mit ihren 1,78m und den blonden Haaren fällt sie auf
Nicht nur wegen ihrer Bilder – mit ihren 1,78 Meter ist sie größer als die meisten einheimischen Frauen – und Männer; blonde Haare hat sowieso fast keiner. Oft wurde sie angesprochen und schließlich beauftragt, den Busbahnhof mit Sehenswürdigkeiten von Banos und Umgebung zu bemalen. „Seitdem muss ich mich nicht mehr um Aufträge kümmern“, erzählt sie und grinst ein bisschen. Dass sie so auffällt, war ihr anfangs unangenehm, inzwischen hat sie sich daran gewöhnt, dass fast jeder in Banos sie kennt. Wer sie sucht, muss nur nach „la chica, que pinta“ – das Mädchen, das malt, fragen.
Damals am Busbahnhof hat sie auch ihren Freund Jens (45) kennengelernt. Er war 1997 aus der Nähe von Aachen nach Ecuador gekommen und hatte im rund 16 Kilometer entfernten Rio Verde ein Stück Land gekauft, was ihm eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung sicherte. Er baute sich ein Haus, und später ein Restaurant, das er zusammen mit einem Teilhaber einige Jahre betrieb. Ob sie dort nicht auch malen wollte, fragte er. Sie ließ sich ein Jahr Zeit, bis sie darauf zurückkam.
Seit 2007 sind Michaela und Jens ein Paar. Zwei Jahre später gingen sie die so genannte „union de hechos“ (Gütergemeinschaft) ein. Seitdem hat Michaela neben dem deutschen auch einen ecuadorianischen Personalausweis. Das macht vieles einfacher, denn nur mit einem Touristenvisum darf man offiziell nicht arbeiten.
Eine Nacht im Gefängnis
Einmal verbrachte sie deshalb sogar eine Nacht im Gefängnis, weil Polizeibeamte sie während ihrer Arbeit aufgriffen und sie kein Arbeitsvisum vorweisen konnte. Nach einer Nacht wurde sie jedoch entlassen und durfte weiter malen. „Die Einheimischen sind spontan, unbeschwert und chaotisch“, sagt Michaela. Sie liebt das. Auch wenn es anfangs für sie als Deutsche irritierend war. „Wenn mir jemand gesagt hat, dass ich etwas malen sollte, hab ich gleich einen Entwurf gezeichnet, ein Gerüst besorgt und all das. Und wenn ich anfangen wollte, hieß es plötzlich: ,Wie, malen? Hab ich vergessen und brauch' ich jetzt auch nicht mehr.‘ Das war anfangs frustrierend.“ Inzwischen kann sie ganz gut einschätzen, wer ernsthaft interessiert ist. Ihre Aufträge kann sie sich mittlerweile aussuchen.
Sie lässt sich auch nicht mehr pro Werk bezahlen wie am Anfang. Damals legte sie oft drauf, wenn es länger dauerte als angenommen. Inzwischen nimmt sie 25 Dollar am Tag und kann gut davon leben. „Ich bekomme mehr Angebote, als ich schaffen kann“, erzählt sie. Wenn sie durch die Straßen von Banos geht, leuchten ihr einige Wände mit ihren eigenen Werken entgegen. Hostels, Restaurants, Bars, Sporthallen, Massagesalons und Spas tragen ihre Handschrift.
Ihr liebster Auftrag ist der in der Bar „Leprechaun“. Seit zwei Jahren malt sie dort schon. Derzeit zwei Tage die Woche. Die Außenfassade, den Barraum, den Hof mit Feuerstelle und die Wände im ersten Stock zieren Feen, Elfen und Zwerge. Mit dem gleichaltrigen Besitzer der Bar, Washington Rodriguez, der sich selbst gern als „guatas“ („Die Speckschwarte“) bezeichnet, versteht sie sich gut. Er lässt ihr freie Hand und ist vom Ergebnis immer begeistert.
Michaela malt sechs Tage die Woche neun bis zehn Stunden. Anstrengend findet sie das nicht, nur Über-Kopf-Malerei vermeidet sie. Als sie trotzdem Rückenschmerzen bekam, gab ein Arzt ihr einen einfachen Tipp: mehr bewegen. Seitdem zieht sie sich so oft es geht morgens vor dem Frühstück ihre Laufschuhe an, geht vorbei am Bäckerladen nebenan, durch die Straßen der Stadt, immer nach oben, bis zu dem kleinen Fußweg, der sie bis zur Jungfrau des heiligen Wassers, dem Wahrzeichen der Stadt, auf 2450 Metern Höhe bringt. Von dort schaut sie über die grünen Hügel, zwischen die sich die Stadt schmiegt. Der Lärm der Sirenen und Autoalarmanlagen dringt nur leise bis hinauf.
Ob sie Deutschland vermisst? „Selten“, sagt sie und schüttelt die blonden Locken. Es gebe Tage, an denen alles mies laufe, dann wünsche sie sich manchmal zurück nach Hause. Aber diese Momente seien schnell vorbei. Ihre Familie, die vermisst sie natürlich. Und deutsche Schokolade, laue Sommernächte, an denen es bis halb elf hell ist. Und Sandalen in Größe 42, die gibt es in Ecuador nicht.
Trotzdem dauerte es vier Jahre, bis Michaela das erste Mal zurück nach Deutschland kam. Schon am Flughafen in Frankfurt fiel ihr auf, dass alle sich viel schneller bewegen. „Deutschland hat ein anderes Tempo als Ecuador“, sagt sie. Nach fast neun Jahren hat sie sich dem südamerikanischen Rhythmus angepasst. Und kann sich gut vorstellen zu bleiben.
Infos Ecuador:
Die Republik im Nordwesten Südamerikas hat etwa 15 Millionen Einwohner. Das Land ist nach der Äquatorlinie benannt, die durch das Staatsgebiet verläuft.
Die Hauptstadt Quito (EW 1,4 Millionen) liegt im Andenhochland auf 2850 Meter. Die Galápagos-Inseln liegen rund 1000 Kilometer westlich der Küste im Pazifik.
In Ecuador gibt es fast 70 Vulkane, von denen rund 20 aktiv sind, darunter der Cotopaxi und der Tungurahua, der zuletzt im Dezember 2012 ausgebrochen ist.
Präsident Rafael Correa (49) wurde am 17. Februar in seine dritte Amtszeit gewählt.
Währung: US-Dollar (seit 2000, davor Sucre).
Sprache: Spanisch, Kichwa (auch Quichua).