
Der erste Kontakt entstand aus sicherer Entfernung. Ein zarter Blick durch ein Passepartout von grünem Blattwerk und braunem Geäst – er reichte, um die Neugier zu wecken. Man kam sich näher – schüchtern und doch bestimmt. Schließlich stand man vor ihm, war gekitzelt von seiner Vergangenheit und irritiert ob seiner Vergänglichkeit. Ein verlassenes Haus mitten im Wald, umrankt von Buschwerk und manchem Geheimnis, beflügelt immer die Fantasie. Wer hat hier gelebt? Wieso steht es leer? Wird es noch einmal zum Leben erwachen – oder ist es dem Untergang geweiht?
Den Mann, der all diese Fragen beantworten kann, erreicht man an einem drückend warmen Sommertag auf dem Handy. Georg Hünnerkopf braucht nur einen Moment, um das Kopfkino anzuwerfen. "Ganze Filme", sagt er, liefen bei ihm ab. Filme aus einer Zeit, in der es noch Schwarz-Weiß-Fernsehen gab, und vermutlich gab es nicht einmal das hier draußen in der Einöde. Es scheint, als habe man bei Hünnerkopf nur einen Knopf auf der Fernbedienung drücken müssen, um die alten Geschichten wieder aufleben zu lassen – von einem Ort, den es eigentlich gar nicht mehr gibt.

Und nach kürzester Unterhaltung findet man sich in einem Sommermärchen wieder mit zwei Hauptdarstellern, die hier im Wald zwischen dem Weiler Ilmbach und Untersambach ein kärgliches, aber offenbar glückliches Leben führten; und immer noch führen würden, wären sie nicht vor Jahren gestorben. Rechtschaffene Leute, so werden Hans und Rosa Reinfelder von allen Seiten beschrieben.
Die Kreidegravur der Sternsinger hat sich bis heute erhalten
Georg Hünnerkopf, heute ein Mittsechziger, war junger Ministrant, als sie am Dreikönigstag mit weißer Kreide die Buchstaben C+M+B mit der jeweiligen Jahreszahl über die braune Holztür ritzten, die Chiffre der Sternsinger. Noch heute sind sie am Türbalken abzulesen. "Das war immer das Herzlichste", erzählt Hünnerkopf.

Im knapp drei Kilometer entfernten Untersambach kannte jeder das rührige Paar, das in der Einöde lebte und doch die Geselligkeit liebte. Freundlich empfangen wurden nicht nur die Sternsinger, sondern auch die Wanderer an Christi Himmelfahrt. Hünnerkopf erinnert sich an selige Stunden, als sie im Schummerlicht der spartanischen Wohnstube hockten und voller Inbrunst alte Volksweisen wie "Im schönsten Wiesengrunde" sangen – ein Lied, das wie gemacht schien für diese Umgebung.
Wenn der Nebel der nahegelegenen Seen nach oben wabert und den mit Kiefern und Eichen gesäumten Wald wie einen Vorhang verhüllt, wirkt die Szenerie noch etwas geheimnisvoller. "Das hat etwas Mystisches", sagt Hünnerkopf.

Will man diesen Lost Place lokalisieren, braucht es eher Geschichtskenntnisse als geographisches Wissen. Georg Hünnerkopf oder dessen älterer Bruder Otto, einst Landtagsabgeordneter, sprechen wie selbstverständlich von Obersambach. Doch auf Google Maps gibt es diesen Ort nicht, was nicht verwundert, weil eine Siedlung dieses Namens im Deutschen Bauernkrieg 1525 – andere Quellen sprechen vom Dreißigjährigen Krieg – niedergemetzelt und ausgelöscht wurde. Übrig blieb ein einziges Anwesen, jener bis heute erhaltene Aussiedlerhof aus dem Jahr 1816.
Ein YouTube-Filmchen gibt einen Einblick ins Innere des Hauses
Auf einem vierminütigen Video, abrufbar auf der Onlineplattform YouTube und schon ein paar Jahre alt, erkennt man, wie es im Innern des Gebäudes einmal aussah. Durch maigrün lackierte Türstöcke geht es in die kleinen Räume und über eine verwinkelte Treppe ins Obergeschoss. Der kurze Rundgang lässt erahnen, dass das Leben im Wald in vielen Punkten vor allem eines verlangte: Verzicht.

Mit und von der Natur lebten sie hier draußen. Das Wasser kam aus einem Brunnen, der noch immer verlässlich sprudelt. Strom aus dem Netz gibt es bis heute nicht. Einziger Luxus war ein Telefonanschluss, der inzwischen wieder gekappt ist. Über viele Jahre kümmerten sich die Reinfelders um den Wildpark der Schönborns. Täglich drehten sie ihre Runde, um zu schauen, dass der Zaun keine Löcher hatte, durch die das Damwild hätte schlüpfen können. Und wenn die Hühner mal wieder vom offenen Grundstück mit den Obstbäumen ausgebüxt waren, schwang sich der Hans auf sein klappriges Fahrrad, irrlichterte durch den Wald und rief so lange, bis er das liebe Federvieh aufgestöbert hatte.
Auch der Gutsverwalter würde sich gerne hier zur Ruhe setzen
Als er starb, verbrachte seine Rosa noch ein paar Jährchen hier draußen, ehe sie in ein Wiesentheider Altersheim zog und dort mit über 100 Jahren die Welt verließ. Fünfzehn Jahre dürfte das jetzt her sein, schätzt Hünnerkopf. Seither stehen das Häuschen und die dazugehörige Scheune leer, und Hünnerkopf wäre längst hierhergezogen, wenn es nicht zwei, nun ja, Problemchen gäbe.

Erstens hat er sich mit seiner Familie im Volkacher Stadtteil Rimbach eingerichtet, und zweitens gehört die hübsche Dornröschenschlossruine – ebenso wie weite Teile des sie umgebenden Waldes – dem Grafen Schönborn. Wobei Hünnerkopf das mit der Ruine so nicht stehen lassen will. Denn anders als der äußere Schein vermuten ließe, sei die gemauerte Grundsubstanz inklusive Keller in gutem Zustand.
Reißt eine Gräfin jetzt das Haus aus dem Dornröschenschlaf?
Und auch wenn Hünnerkopf, der Gutsverwalter des Hauses Schönborn, sich nicht selbst in dieser lauschigen Idylle zur Ruhe setzen wird, so lebt doch die Hoffnung, dass das Häuschen im stillen Hain dereinst wieder hergerichtet wird. Wie man hört, soll eine Tochter des Grafen sich in das Fleckchen Natur verliebt haben. Es gäbe kein passenderes Happy End dieses Sommermärchens, als wenn jetzt ausgerechnet eine Gräfin das verwunschene Anwesen aus seinem Dornröschenschlaf wachküsste.
Dieser Artikel erschien erstmals im August 2023.