Kann man sich in Worte verlieben? Kann man sich verlieben, wenn das Gegenüber eben nicht gegenüber, sondern meilenweit außer Sicht-, Hör- und Riechweite ist?
Raffael Di Gioia aus Gaibach ist Bauzeichner – und Musiker aus Leidenschaft. Vor Jahren suchte er eine Sängerin. Doch das Demo, das ihn erreichte, überzeugte ihn nicht. Er erteilte der jungen Frau eine Absage. „Es gingen ein paar unschöne Worte rüber und nüber.“ Ein halbes Jahr verging. Dann bekam er eine Mail von der ehemaligen Bewerberin um die Stelle am Mikrofon. Sie wollte den Streit aus der Welt räumen.
„Dann haben wir hin- und hergeschrieben“, berichtet Di Gioia, der damals 34 Jahre alt war. „Wir waren immerzu online.“ Irgendwann beschlossen die beiden, einander persönlich zu treffen. Eine Liebesgeschichte begann. Sechs Jahre ist Raffael inzwischen mit seiner Kathi zusammen, seit vier Jahren sind die beiden verheiratet. „Jetzt haben wir bald drei Kinder, ein Haus und sind immer noch super glücklich miteinander.“
Glücklich sind auch Gudrun und Markus Lechner. Die Eltern zweier Söhne haben sich im „Millenniumsjahr“ 2000 kennen gelernt – in einem Chat-Room auf „flirt.de“. Die heute 38-jährige Gudrun, eine gebürtige Obernbreiterin, erzählt: „Ich habe damals in der Nähe von Regensburg eine Umschulung zur Mediengestalterin gemacht. Nach Unterrichtsschluss haben alle gechattet. Also hab' ich auch mal in verschiedene Räume reingeklickt. In einem hatte Markus gerade einen Link gepostet, mit Werbung für seine neue Website.“ Als angehende Mediengestalterin besah Gudrun sich den Online-Auftritt kritisch. Markus erinnert sich: „Sie hat mich ganz frech angeschrieben und mir mitgeteilt, was ich ihrer Meinung nach verbessern müsste.“
So fing es an. „Wir haben dann immer öfter und länger gechattet“, berichtet der Reutlinger. Zwar steckten beide in einer Beziehung. Aber besser als mit dem Partner konnten sie miteinander online reden.
„Auflegen war ganz schwer“
Nach fast fünf Monaten Internet-Kontakt griff Markus zum Telefonhörer. Zuerst waren da leichte Sprachprobleme: „Fränkisch und Schwäbisch trafen aufeinander. Lustig“ Doch die Barriere fiel schnell. „Wir haben oft telefoniert. Irgendwann wurde es jedes Mal schwerer, auch mal wieder aufzulegen.“
Ein halbes Jahr nach dem Online-Kennenlernen machte Gudrun Nägel mit Köpfen. Sie setzte sich ins Auto und düste 350 Kilometer quer durch Bayern bis ins schwäbische Reutlingen. Dort schrieb sie Markus eine SMS: „Steh' vor der Tür.“
Mit „rasendem Herzen und feuchten Händen“ öffnete der gelernte Bürokaufmann die Tür. „Ich hab' sofort gedacht: Das ist er!“, sagt Gudrun grinsend. Die beiden verbrachten das Wochenende zusammen. Am Sonntagabend fiel der Abschied schwer. Die Frage „Wie geht es jetzt weiter?“ blieb im Raum stehen.
Am Mittwochabend hielt Gudrun es nicht mehr aus. Sie entschuldigte sich bei ihrem Dozenten für die nächsten Tage. „Er wollte wissen, was los ist. Da hab' ich ihm ehrlich gesagt, dass es um den Mann meines Lebens geht.“ Darauf habe der Dozent gelacht und erwidert: „Diese Entschuldung nehme ich an.“
Am 16. März 2002 – genau ein Jahr nach ihrer ersten persönlichen Begegnung – gaben Markus und seine Guddi einander das Ja-Wort. Einer der Trauzeugen war ein Freund aus dem Chatroom.
„Das hat alles so sein sollen“, sind sich Gudrun und Markus einig. Allen Internet-Nutzern raten sie, sich nicht zu verstellen. „Irgendwann begegnet man sich. Dann kommt die Wahrheit ans Licht.“
Aber Achtung: Nicht alle Leute haben gute Absichten. Manche verstellen sich online ganz bewusst. Darauf macht Andreas Laurien aufmerksam. Der Leiter der Kitzinger Beratungsstelle in der Güterhallstraße appelliert vor allem an Jugendliche: „Man muss immer aufpassen, nicht erpressbar zu werden. Man weiß nie, wer hinter einem 'Nickname' steckt. Sobald man zum Beispiel ein Bild verschickt hat, hat man keine Kontrolle mehr darüber.“
Das erste Treffen mit Online-Bekannten sollte immer an einem öffentlichen Ort stattfinden, rät der Diplom-Psychologe. Denn Fälle von „Cyber-Grooming“ – gezieltem Ansprechen ausschließlich aus sexuellen Absichten – häufen sich.
„Freundschaft, Partnerschaft – das steht alles an oberster Stelle auf der Wunschliste der Menschen“, betont Laurien. Die virtuelle Welt – die es schon immer gibt, etwa in Liebesromanen, Filmen – spreche diese Sehnsucht an. Die Gefahr abzugleiten, sei dabei immer gegeben.
Gudrun Lechner formuliert es so: „Man muss wohl auf sein Herz und auf sein Hirn hören. Ich glaube nicht, dass man sich nur durch Chatten so richtig innig verliebt. Dazu braucht man dann doch den direkten Kontakt.“
Das Hirn angeschaltet lassen
Bei Raffael die Gioia war es so: „Bevor wir uns sahen, hat es nicht gekribbelt. Aber geflirtet hab' ich schon. Allerdings eher so spielerisch.“
Also kann man sich in Worte „vergucken“? „Klar“, ist der Familienvater sicher. „Dennoch sollte man soweit den Verstand behalten, dass man erkennt, ob es nur Worte sind oder ob der ganze Mensch in der Realität auch so ist.“
Und eben das ist das Problem, sagt Diplom-Psychologe Andreas Laurien. Wenn es um Liebe geht, schalte das Hirn oft aus. „Allerdings ist das ja nicht nur online der Fall.“
Einloggen – und ab ins Abenteuer?
Liebe gesucht: Am 24. Juli, dem „Tag der virtuellen Liebe“ (Virtual Love Day) geht es um die vielfältigen Möglichkeiten, wie sich Singles kennenlernen können. Dies fängt bei zufälligen Bekanntschaften über Chats oder E-Mails an und setzt sich über die gezielte Nutzung von Singlebörsen oder Partnerbörsen bis hin zur Online-Partnervermittlung fort; letztere sind vor allem bei den über 30-Jährigen beliebt.
Seriös? Der Preis für eine Mitgliedschaft ist bei einer Online-Partnervermittlung meist deutlich höher als bei einer Dating- oder Singlebörse. Dafür gibt es neben einem wissenschaftlichen Persönlichkeitstest normalerweise anonymisierte Suchen sowie Seriositäts- und Profilprüfungen, um die Mitglieder vor unseriösen Kontakten zu schützen.
Ist da „mehr“? Wenn es online einmal kribbelt, ist ein Date meist nicht weit. Laut einer Umfrage unter 2000 Mitgliedern der Partnerbörse FriendScout24 weiß jeder Dritte nach dem ersten Date, ob es klappen könnte oder nicht. Ein weiteres Drittel benötigt eine zusätzliche Begegnung, um das für sich herauszufinden. Dreimal verabreden sich immerhin noch 19 Prozent. Nur drei Prozent treffen sich zehnmal oder häufiger.
Info/Hilfe: www.klicksafe.de; www.lilli.ch, www.trau-dich.de; die „Nummer gegen Kummer“: 0800/1110333; Hilfe gibt es auch bei Andreas Laurien und seinem Team der Kitzinger Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in der Güterhallstraße, Tel. 09321/ 7817. *ldk*