Den Schwan „Fritzi“ mit dem Pfeil im Hals hat sie gesund gepflegt. Sie hat Spinnen und Blindschleichen heimgeschleppt, mit Katzen und Hunden gespielt. Ihre Oma hat nie in ihre Taschen gefasst, weil sie fürchtete, es könnten irgendwelche kleinen Tiere drin sein. Wenn Schwester Edith Margaretha Stüfen, Mitglied des benediktinischen Frauenordens Communität Casteller Ring (CCR) auf dem Schwanberg, erzählt, lacht sie so ansteckend, dass man unwillkürlich mitlachen muss. Dabei hatte es die Gründerin zahlreicher fränkischer Sozialstationen wahrlich nicht immer leicht. Ihr großes Ziel hat die Menschen-, Tier- und Blumenfreundin dennoch erreicht, und so feierte sie am Donnerstag (15. April) voller Energie ihren 90. Geburtstag.
Mit zehn Jahren hat sie erfahren, dass ihre „Mama“ gar nicht ihre Mutter ist, sondern in Wahrheit ihre Oma. „Weil meine leibliche Mutter als Hausangestellte keine Möglichkeit sah, mich großzuziehen, war ich ins Heim und dann zu Pflegeeltern gekommen. Oma durfte mich von Gesetzes wegen nicht zu sich holen, weil sie und Opa auf einem Transportkahn durch die Gegend schipperten“, erzählt die Schwanbergsschwester. „Doch als ich mit zwei Jahren noch nicht laufen konnte und ihr unterversorgt erschien, hat meine Oma mich kurzerhand entführt und zu sich geholt“, erzählt Sr. Edith.
Das Jugendamt gab schließlich nach und erlaubte unter Auflagen, dass die Kleine bei ihren Großeltern aufwachsen durfte. Mit Letzteren und zwei älteren Schwestern, die sich später als Tanten entpuppten, lebte sie in Woltersdorf, einem Vorort von Berlin.
Noch immer kommt ab und zu ein bisschen „Berliner Schnauze“ durch, wenn Sr. Edith ihr Leben Revue passieren lässt. Dann sagt sie „ick“ statt „ich“ und „die Kleene“ statt „das Mädchen“. Ihre blauen Augen blitzen, mal voller Lebenslust, mal auch wegen schwerer Erinnerungen. Mitten im Zweiten Weltkrieg tauchte ihre leibliche Mutter, neu verheiratet, plötzlich auf und holte ihre Tochter zu sich nach Heinersdorf in Berlin-Pankow. Ein liebevolles Elternhaus gab es hier jedoch nicht.
Auf Anweisung des alten Schuldirektors, dessen Lehrer alle zum Kriegsdienst einberufen worden waren, zog das Kind mit anderen Mädchen durch die Straßenzüge von Berlin. Edith Stüfen hat die Melodie, die sie gemeinsam sangen, nie vergessen: „Lumpen, Knochen, Eisen und Papier, ausgeschlag'ne Zähne sammeln wir. Lumpen, Knochen, Eisen und Papier, alles sammeln wir.“
Wenn Luftschutzbunker durch Bomben verschüttet waren, rückten die jungen Mädchen ebenfalls mit an und halfen, Eingänge freizugraben. „Ich habe noch das Bild vor Augen, wie die Leichen aufrecht nebeneinander saßen. Wenn eine umfiel, riss sie alle anderen mit um.“
Ob sie in solchen Situationen nicht an einer göttlichen Existenz gezweifelt hat? „Das hatte nicht Gott angerichtet“, sagt Sr. Edith ruhig. „Ich habe im Alter von fünf Jahren gespürt, dass da jemand über uns wacht – und diese Verbindung habe ich zeitlebens nie verloren.“
Dabei waren Ediths Großeltern überhaupt keine Kirchgänger. Als ihre „große Schwester“ Konfirmandin war, aber keine Lust hatte, allein zum Gottesdienst zu gehen, „habe ich zu ihr gesagt, ich komme mit dir“, berichtet Sr. Edith. „In der Kirche hat es mir dann so gut gefallen, dass ich immer wieder dorthin wollte. In der 'Spielschule' für die Kleinen habe ich von einer Diakonisse die erste Apfelsine meines Lebens bekommen – und die Uhr gelernt.“
Mit 15 zog Edith von zuhause aus. Ihre Mutter wollte, dass sie Hausbedienstete wird, doch das Mädchen hatte andere Pläne. Zwar arbeitete Edith tatsächlich erst „in Stellung“, wechselte aber rasch in eine Bäckerei, wo man ihr schon nach einem Jahr sämtliche Aufgaben zutraute. „Im tiefsten Herzen wollte ich aber schon immer Diakonisse oder, noch besser, Krankenschwester werden.“
Im „Haus der Kirche“ und später auf der Privatstation der Berliner Bethanien-Klinik kam sie diesem Ziel näher – bis einer Patientin eine teure Kette abhanden kam. „Weil ich die Kette vorher bewundert hatte, bezichtigten sie mich des Diebstahls. Aber ich wehrte mich und wollte, dass die Kripo eingeschaltet wird. Das passte der Leitung überhaupt nicht, ebenso wenig wie die Tatsache, dass ich in einer Hochkirchen-Bruderschaft aktiv war. Aber ich knickte nicht ein – diplomatisch war ich aber leider auch nicht gerade. Kurz darauf tauchte die Kette bei der Schwester der Patientin wieder auf. Ich wechselte trotzdem nach Frankfurt/Oder. In der Krankenpflegeschule dort wurde mir Vertrauen entgegengebracht.“
Über einen weiteren „Umweg“ über Münster, wo sie schließlich Examen machte, landete Sr. Edith 1968 schließlich in ihrem endgültigen Zuhause, dem Frauenkloster auf dem Schwanberg. „Hier haben mich die Gottesdienste, Stundengebete und die Liturgie sofort fasziniert.“ Ihr medizinisches Wissen war sehr gefragt – zum einen als Krankenschwester, denn als solche konnte sie unter anderem die CCR-Gründerin Christel Schmid an deren Lebensende pflegen, zum anderen aber auch als Lehrerin und Erzieherin im so genannten „Vorseminar für soziale Frauenberufe“ auf dem Schwanberg, das junge Frauen auf Pflege-Tätigkeiten vorbereitete.
Nach einigen Jahren konzentrierte sich Sr. Edith wieder voll auf die Krankenpflege und baute 1975 mit dem Diakonischen Werk die erste Sozialstation in Würzburg auf. Mehrere Außenstationen folgten, etwa in Karlstadt, Thüngen, Uettingen und Reichenberg. Zu dieser Zeit hatte die Krankenschwester eine Wohnung in der Domstadt und besuchte die Patienten zu allen Tages- und Nachtzeiten. „Mit meinem Tüffelchen oder Goldkäfer – so hieß mein kleiner Fiat – bin ich damals ganz schön rumgekommen.“ 1982 ging es nach Nürnberg. Auch dort leistete Sr. Edith Aufbauarbeit in Sachen Sozialstation sowie Aids-Krankenpflege.
An viele Patienten denkt Sr. Edith heute noch. Etwa an die schwer krebskranke Frau, die traumatische Erfahrungen mit der Kirche gemacht hatte. Mit ihr, der Kranken- und Ordensschwester zusammen, wollte die Frau aber auf einmal gern noch einmal beten. „Ich habe mich nicht nur um den Leib gekümmert, sondern auch um die Seele, das war immer ganz wichtig. Man darf niemandem etwas aufdrücken, sondern muss jeden nach seiner Fasson leben und sterben lassen.“
Als Sr. Edith 60 Jahre alt wurde, rief die damalige Priorin sie wieder auf den Berg. Hier wirkte sie als Mesnerin, Sakristanin, also Gottesdienstvorbereiterin, und Infirmarin – so wird die Krankenschwester in der Communität genannt. Im Alter hat Sr. Edith nichts von ihrer fidelen Art eingebüßt. Jeden Tag läuft sie eine Runde Richtung Park, beobachtet die Wildvögel, füttert sie und spielt mit ihrer Katze. „Ich bin ein zufriedener, glücklicher Mensch“, sagt sie. „Auch für schwere Zeiten bin ich dankbar. Denn sie haben mir gezeigt, wie stark ich bin.“ Ihre Arbeit, so sagt sie, habe sie nie als Arbeit angesehen, „sie hat mich nie müde gemacht“. Ihr ganzes Leben lang habe sie das Gefühl gehabt, von einer höheren Macht geleitet und geführt zu werden. „So habe ich mein großes Ziel, Krankenschwester zu werden, trotz aller Hindernisse erreichen können.“
Schon als Kind habe sie erfahren, wie schön es ist, anderen Lebewesen zu helfen. Dem verletzten Schwan „Fritzi“ hat sie mit einer Pipette vom Tierarzt regelmäßig Medizin eingeflößt – und das angeschossene Tier wurde tatsächlich wieder gesund. Wenn „Fritzi“ später Ediths Stimme hörte, lief er sogar übers Wasser zu ihr hin. Ein prägendes Erlebnis.