Abreißen, oder das Anwesen verkaufen, und den Winzerbetrieb außerhalb neu errichten – das wäre sicherlich das Einfachste gewesen. Rainer Sauer hat darüber nachgedacht, doch beide Ideen schnell verworfen. "Man hängt natürlich an so einem Anwesen", sagt der 63-Jährige rückblickend. Es ist Teil der Familiengeschichte: Seine Eltern, Hildegard und Adolf Sauer, hatten es geerbt. Urgroßvater Josef Sauer hatte das Anwesen in der Bocksbeutelstraße in Escherndorf als kleine Winzerei mit etwas Vieh und kleinem Obstbetrieb im Jahr 1909 gekauft. Wer das Anwesen jetzt sieht, denkt unwillkürlich: Gut, dass es im Familienbesitz geblieben ist.
Das Anwesen prägt das Ortsbild des Straßendorfs
Denn das Anwesen, zu dessen Baujahr nur bekannt ist, dass es laut eines Verzeichnisses von 1850 schon stand, zählt nach der Sanierung zweifellos zu den Schmuckstücken in dem Winzerort am Main. Die Denkmalpflege hat das typische Straßendorf unter Ensembleschutz gestellt. Das Anwesen von Rainer Sauer mit dem ehemaligen Wohnhaus mit dessen Fassade aus Muschelkalk-Steinen, den Fenstergewänden, den Gurtgesimsen aus Sandstein, dem Krüppelwalmdach und den dreiflügeligen Galgenfenstern ist eines der Anwesen, die das Ortsbild prägen.
Große Bausünden am Altbestand hat es in den zurückliegenden Jahrzehnten nicht gegeben, berichtet der Besitzer. Doch wie vielerorts fehlte der Blick fürs Ganze. So entstand Ende der 1960er Jahre ein Anbau an das historische Wohnhaus und ein Neben- und Wirtschaftsgebäude als Querbau. Anfang der 80er kam im Innenhof ein historisierender Fachwerkbau für den Weinverkauf hinzu. Alles in allem ein mehr oder weniger zweckdienliches Sammelsurium an Gebäuden mit unterschiedlichen Fassaden und Dachformen.
Dies sollte sich ändern. "Der Architekt hat wieder eine Einheit geschaffen", beschreibt Sauer das Ergebnis der Sanierung von März 2013 bis Mai 2015, für die er, wie berichtet, einen der diesjährigen Staatspreise für Erhalt der Baukultur im ländlichen Raum erhielt. Am besten kommt dies beim Blick in den Innenhof zum Ausdruck. Das frühere Wohnhaus hat seine Natursteinfassade behalten und beherbergt jetzt die Probierstube. Anstelle des abgebrochenen Wohnhaus-Anbaus plante das Planer-Team mit den beiden Architekten Michael Fenn und Reinhard May und Grafikdesignerin Dagmar Lehmann eine betont moderne Pfosten-Riegel-Fassade aus sichtbaren Holzständern und Glasfeldern. Sie dient als architektonisches Bindeglied zur ehemaligen Heckenwirtschaft im Fachwerkbau, der eine Putzfassade erhielt. Dort wohnt jetzt Daniel Sauer (36), ein Sohn der Familie, mit Frau Anne und den beiden Kindern – die nächste Generation, die den Familienbetrieb fortführt.
Dass der Junior als studierter Winzer den Betrieb im kommenden Jahr übernehmen wird, hat seine Eltern maßgeblich überzeugt, das Anwesen zu sanieren und so zu modernisieren, dass dort ein zeitgemäßer Winzerbetrieb möglich ist, sagt Mutter Helga Sauer (62). "Das hat uns den letzten Ruck gegeben." Schließlich hat die Sanierung laut Bauherr einen hohen sechsstelligen Betrag verschluckt. Dafür steht jetzt im Altort von Escherndorf ein weiteres Beispiel dafür, dass moderner Weinbau in historischem Umfeld gut funktionieren kann, mit einer schmucken Schauseite zur Ortsdurchfahrt hin. Die Produktionsflächen, wie Kelter und Abfüllanlage, liegen im rückwärtigen Anwesen, in Richtung Main. Unterm Haus und unter dem Hof lagern in Kellern 90 000 Liter Wein in Edelstahltanks und Holzfässern.
Das Treppenhaus erzählt eine eigene Geschichte
Doch das sind nur die erneuerten Hüllen des Winzerhofs. Die dahinter steckende Philosophie reicht viel weiter und zeigt sich am besten im Treppenhaus, das zur Probierstube im Obergeschoss des alten Wohnhauses führt. Rainer Sauer nennt den zum Dachstuhl hin offenen Raum "das zweite Wohnzimmer". Auf dem Weg vom Erdgeschoss hinauf in den ersten Stock lernt der Besucher die Geschichte des "Lumps", der Steillage in den Escherndorfer Weinbergen, kennen: Das Treppengeländer besteht aus einzelnen, geschmiedeten Metallstreben. Die Wände stellen den Muschelkalkboden dar. Goldstreifen durchziehen diesen und verweisen darauf, dass der Boden für den Winzer den größten Schatz darstellt, die Basis für einen hervorragenden Wein. In die Wand eingespachtelt sind die Rindenstücke von Rebstöcken und Traubenkerne. Und oben, an der Decke, symbolisieren Glühbirnen die Regentropfen. Das Treppenhaus ist – obwohl es schlicht und unaufdringlich wirkt – ein sprechendes und mit Symbolen gespicktes Kunstwerk geworden, fast so, als stamme es aus der Zeit des Barocks, in der Treppenhäuser in Herrscherhäusern den Besuchern gerne von der Macht der Bewohner erzählten.
Das Haus zeigt seine Gebrauchsspuren ganz ungeniert
In der Außenwand der Vinothek zeugen Backsteine neben dem Muschelkalk, der aus Escherndorfs Weinbergen stammt, von der gewachsenen Geschichte des Hauses. Wo früher ein Esszimmer, ein Wohn- und ein Schlafzimmer waren, sitzen jetzt Kunden und probieren Wein. "Ihr müsst euch hier wohlfühlen und euch nichts überstülpen lassen", das habe der Architekt ihnen gesagt, berichtet Sauer. Und daran hat er sich gehalten. Dazu passt es, dass das alte Haus Gebrauchsspuren aus seiner Geschichte zeigt, dass etwa Sandsteine ausgebessert sind. "Das stört niemanden", findet Sauer.