Elchtest quer durch Alaska: Von Anchorage im Süden zum Eismeer im Norden weit jenseits des Polarkreises – diese faszinierende, aber auch strapaziöse Radtour meisterte der Holzhäuser Manfred Wagner (60) zusammen mit dem aus Suhl stammenden Dietmar Roth (75). Bei Minusgraden krochen sie frühmorgens schlotternd aus ihren Schlafsäcken und Zelten, ein wild fauchender Schneesturm sorgte über Nacht für eingefrorene Schaltungen und Bremsen, unzählige steile Anstiege und Abfahrten in der Form von Sinuskurven forderten äußerste Willensanstrengung, Kraft und Energie.
Doch das Wetter in Alaska ist extrem unbeständig: Einen Tag später überfielen bei 20 Grad plus Schwärme von Moskitos die schwitzenden Abenteurer, dann wieder blockierten kilometerlange Schlamm- und Schotterpisten die Räder und röhrende, überholende Trucks nebelten sie mit dichten Staubwolken ein – auf dem berühmt-berüchtigten, legendären Dalton-Highway von Alaska, der als eine der gefährlichsten Straßen der Welt gilt, geht radeln nur auf die harte Tour.
Da es auf dieser nicht asphaltierten Piste ohne Leitplanken und Standstreifen so gut wie keine Versorgungsmöglichkeit gibt, mussten die Traveller Lebensmittel und Wasser für eine knappe Woche mit sich schleppen. „In the Middle of Nowhere“ (wörtlich: Mittendrin im Nirgendwo), sagen dazu die Amerikaner. Wer hier die Straße verlässt, begegnet auf Wochen oder Monaten keiner Menschenseele.
Der Weg der beiden Vagabunden schlängelte sich durch menschenleere, riesige und abwechslungsreiche Landschaften: Feuchtgebiete der Taiga mit unzähligen verkohlten und verkrüppelten Sumpftannen, ausgedehnte Birkenwäldchen, tiefe Schluchten mit reißenden Bächen, schneebedeckte Berge der Brooks Range und schließlich die öde, unwirtliche und baumlose Landschaft der Tundra, wo der Permafrost herrscht. Wer Natur pur liebt und ein Ohr für den Ruf der Wildnis hat, ist hier richtig.
Auf dem 800 Kilometer langen Highway gibt es nur einen Stopp mit Restaurant und Zimmer: Coldfoot (wörtlich: Kaltfuß). Meist in Sichtweite verläuft die Trans-Alaska-Pipeline, durch die das im Nordpolarmeer geförderte Öl in den Süden gepumpt wird. Unterwegs überquerten die Pedalritter zahlreiche Bäche wie den Bonanza- oder den Desaster-Creek. Die Namen erinnern an den Goldrausch im 19. Jahrhundert.
Aus nächster Nähe beobachteten sie schaufelbewehrte Elche, schneeweiße Bergziegen, scheue Karibus und zottelige Moschusochsen. Nur Schwarzbären und Grizzlys ließen sich nicht blicken. Zum Glück, denn mit Meister Petz ist nicht zu spaßen. Jeden Abend deponierten die Radfreaks ihre Vorräte einige Hundert Meter entfernt von ihren Zelten –Bären haben einen ausgeprägten Geruchssinn! Und ein Tete-a-tete mit einem solchen Raubtier kann böse enden! Wer will schon als „Meal on Wheel“ (wörtlich: Essen auf Rädern) enden?!
Gewöhnungsbedürftig war, dass es praktisch überhaupt nicht dunkel wurde. Jenseits des Polarkreises bleibt es um die Jahresmitte immer hell – was an schönen Tagen zu 16, 18 oder 20 Sonnenstunden führt! Nahe des Yukon-Rivers begegnete das Duo dem jungen Belgier Weking van Reeth. Dieser läuft täglich unter dem Motto: „Ein Mann, ein Kontinent“ einen Marathon. Auf diese Weise will er in 18 Monaten ganz Nord- und Südamerika durchlaufen – nach 25 000 km ist Ushuaia in Argentinien sein Ziel. Für die beiden Deutschen aber hieß das Ziel Deadhorse.
Diese Ortschaft mit einer Handvoll Einwohnern besteht fast ausschließlich aus Industrieanlagen und einem Camp, das die Arbeiter des Ölfeldes am Eismeer von Prudhoe Bay versorgt. Als die Radler erschöpft und verdreckt, aber glücklich und stolz dort ankommen, erkennen sie schnell: Bei dieser grandiosen Abenteuerreise war tatsächlich der Weg das Ziel – touristisch gesehen ist Deadhorse bloß ein toter Gaul!