Ein Mädchen wird von zwei betrunkenen Jugendlichen in der Straßenbahn belästigt. Eine ältere Frau mischt sich ein, wird bedroht, zieht sich zurück. Ein Mann beobachtet die Szene, traut sich aber nicht, dem Opfer zu helfen. Schließlich wehrt sich das Mädchen selbst – erst mit einem kraftvollen Kopfstoß gegen das Nasenbein des Angreifers, dann zückt sie eine kleine Dose mit Haarspray – „mindestens genauso wirkungsvoll wie Pfefferspray“, sagt Klemens Großkopf-Klopf.
- Fünf Tipps für Zivilcourage
Haarspray statt Pfefferspray
Das Ganze ist nie passiert. Die Protagonisten sind Schauspieler in einem Informationsfilm der Bundespolizei. Mit ihm startet der Hauptkommissar sein Zivilcourage-Training an der Freien Waldorfschule in Haßfurt. An diesem Tag will er 13 Schüler der achten Klasse fit machen, mutig für sich und andere einzutreten, ohne dabei Gewalt anzuwenden oder sich selbst zu gefährden.
Groß, breitschultrig, grauer Vollbart, tiefe Stimme, das Polizeiholster griffbereit: Als Klemens Großkopf-Klopf das Klassenzimmer betritt, wird es mucksmäuschenstill. Der Kommissar arbeitet seit 43 Jahren als Polizist, ging jahrelang auf Streife. Brenzlige Einsätze kennt er zur Genüge. Heute gibt es wenig, was ihn noch aus der Ruhe bringen kann. In ganz Unterfranken und Teilen Oberfrankens ist er unterwegs, um Kinder und Jugendliche für gefährliche Situationen im Bahnverkehr zu sensibilisieren oder in Zivilcourage zu trainieren. Die Oberstufentage in der Haßfurter Waldorfschule sind seine 93. Veranstaltung allein im ersten Halbjahr 2018. Bis Oktober ist der Kommissar ausgebucht. Entweder pickt er sich die Schule selbst heraus – wenn dort etwas vorgefallen ist – oder die Schulleitung fragt seine Präventionsveranstaltungen direkt an, so wie heute.
Lebensgefährliches Selfie auf Bahngleisen
Wenn Klemens Großkopf-Klopf aus dem Nähkästchen plaudert, hat das wenig mit dem Polizeialltag zu tun, den die Schüler aus dem Fernsehen kennen. Denn die Fälle aus Karlstadt, Würzburg oder Kitzingen sind real. Sie lassen selbst den erfahrenen Hauptkommissar nicht kalt. Ein Beispiel hat er an diesem Tag für die Waldorf-Schüler mitgebracht: Es ist ein Video zweier 15-jähriger aus dem Landkreis Kitzingen. Zu sehen ist ein Bub, der von seinem Freund dazu angestachelt wird, sich ins Bahngleis zu legen. In dem Moment, in dem er wieder herausklettert, rauscht der Intercity vorbei. Der Junge überlebt. Die Waldorf-Schüler schütteln ungläubig den Kopf. Doch der Fall, den der Kommissar schildert, wird noch haarsträubender.
Das Selfie-Video aus dem Gleis zierte nach dem Vorfall das Whatsapp-Profil des 15-Jährigen. Die Mitschüler und sogar der Klassenlehrer wussten über die lebensgefährliche Mutprobe Bescheid. Doch niemand informierte die Polizei. Selbst die Schulleitung und die Eltern der beiden Jungen waren ahnungslos. Dann kam Hauptkommissar Großkopf-Klopf. Zuerst informierte er die Verantwortlichen und knöpfte sich die beiden Teenager vor. Da sie älter als 14 und somit strafmündig sind, handelt es sich um eine Ordnungswidrigkeit. Hätte der Lokführer eine Notbremsung durchgeführt, wäre eine Strafanzeige wegen gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr fällig gewesen.
Doch viel wichtiger als die Strafe ist dem Kommissar die Aufklärung der beiden Jungen, ihrer Eltern, Lehrer und Klassenkameraden. Denn was viele nicht wissen: Laut Paragraf 201a wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder einer Geldstrafe belegt, wer solch ein Video von einer hilflosen Person aufnimmt oder weiterverbreitet.
Warum jemand zum Opfer wird
Seine Zivilcourage-Veranstaltung ist eine Mischung aus Verhaltenstraining, Aufklärung, Rechtskunde, tatsächlich Erlebtem und Rollenspielen, bei denen die Schüler erleben, was es heißt, Zeuge eines Vorfalls zu werden, in dem Zivilcourage gefordert ist. Sie lernen, dass körperliche Überlegenheit allein nicht entscheidend ist. Viel wichtiger sind ein selbstbewusstes Auftreten, eine kräftige Stimme und eine aufrechte Körperhaltung. Denn ob jemand beim ersten Eindruck ein potenzielles Opfer abgibt, hängt zu 55 Prozent an seiner Mimik und Gestik, zu 38 Prozent an der Stimme und nur zu sieben Prozent an dem, was er tatsächlich sagt.
Zwei Auszubildende im Polizeidienst hat der Kommissar nach Haßfurt mitgebracht. Die 22-Jährigen mimen Täter und Opfer bei den Rollenspielen. Der Täter sondiert die Gruppe der Schüler erst mit Blicken, um herauszufinden, wen er sich als Opfer herauspickt und was er im schlimmsten Fall von den anderen zu erwarten hätte. Sobald er sein Opfer in die Zange nimmt, gelte es, möglichst viele umstehende Zeugen konkret anzusprechen und zur Hilfe zu animieren, erklärt Großkopf-Klopf. Die Gruppe müsse laut werden, den Täter von verschiedenen Seiten einkreisen, ihn irritieren und ihm drohen, so dass er sich nicht nur auf eine Person konzentrieren könne. Zur eigenen Sicherheit sei es aber wichtig, stets Abstand zu halten, sagt der Kommissar.
Genauso selbstverständlich sei es, möglichst schnell den Notruf (110) zu wählen und der Polizei eine genaue Täterbeschreibung zu liefern. Und noch einen Tipp hat Großkopf-Klopf für die Schüler: Den Täter immer mit „Sie“ ansprechen – das schaffe Distanz. Zeugen hätten weniger Hemmung, dem Opfer zu helfen, wenn sie davon ausgehen, dass sich Täter und Opfer nicht kennen.