Mit vielen „Ahs“ und „Ohs“ bedauerten die Besucher in der Stadthalle in Königsberg Stefan Borrmann mit seinen geschundenen, mit Blasen übersäten Füßen.
Der Altenpfleger berichtete beim Stammtisch für pflegende Angehörige von seiner Wanderung von Birkach nach Jerusalem. Dabei zeigten zahlreiche Bilder nicht nur die Stationen seiner Reise – einige legten auch Zeugnis vom Zustand seiner Füße ab. „Während ich weg war, mussten die Kolleginnen den Betreuten und ihren Angehörigen immer darüber Auskunft geben, wo ich mich gerade aufhalte.“ Nun konnten sie von ihrem Pfleger Stefan selbst hören, wie es ihm auf seiner rund 3800 Kilometer langen Fußreise ergangen war.
„Am Anfang hatte ich einfach nur die Idee, zu Fuß zu einem Ziel hin unterwegs zu sein“, schildert Borrmann seine Beweggründe. Der 35-Jährige kündigte seine Arbeitsstelle bei der ambulanten Pflegestation – „ich wollte unbegrenzt Zeit haben“ – und machte sich am 5. Juni 2012 mit einem 16 Kilogramm schweren Rucksack auf dem Rücken auf den Weg. Die ersten 300 Kilometer war er nicht lange allein: Bis Regensburg begleitete ihn seine Freundin Tina Betz, dann lief sein vormaliger Chef Burkard Schober für drei Tage mit. „Das Laufen war so schön. Ich bin sicher, wir werden uns auf dieser Reise noch einmal sehen“, verabschiedete sich Schober in Passau.
Mitte Juni erreichte der Wanderer Österreich. Das Thermometer war inzwischen auf 30 Grad geklettert, und an den schwitzenden Füßen hatten sich zahlreiche Blasen gebildet. „Sie taten so höllisch weh, dass ich daran zweifelte, weitergehen zu können“, erinnert sich Borrmann. Mit Schmerzmitteln und einer dreitägigen Pause verschaffte er seinen Füßen Linderung.
Sachertorte muss sein
Nach zwei Tagen in den Häuserschluchten von Wien und dem Genuss der obligatorischen Sachertorte – „9,30 Euro mit einer Tasse Kaffee!“ – setzte Borrmann seinen Marsch Richtung Ungarn fort. Voller Stolz, Deutschland und Österreich hinter sich zu haben, erreichte er nach knapp einem Monat die Grenze zu Ungarn. „Inzwischen hatte es 38 Grad und ans Laufen war ich immer noch nicht gewöhnt“, berichtet Borrmann. Ein Stück hinter Budapest schien die Reise schließlich ein jähes Ende zu nehmen. „Mein Bein war so angeschwollen, dass ich keinen Schritt mehr laufen konnte.“ Ein zunächst vermuteter Ermüdungsbruch stellte sich nach dem Röntgen „glücklicherweise“ als Entzündung der Knochenhaut heraus, die mit Tabletten und Ruhigstellung des Beines behandelt werden konnte. Nach fünf Tage ertrug der Beinkranke die erzwungene Pause nicht mehr und verabschiedete sich von seiner fixen Idee, die gesamte Strecke zu Fuß gehen zu müssen. „Ich mietete mir ein Kajak und legte die nächsten 60 Kilometer auf der schnell fließenden Donau zurück.“
Ab Mohács im Dreiländereck Ungarn-Serbien-Kroatien ging es dann wieder auf Schusters Rappen weiter bis Belgrad. War die Strecke von Bamberg bis Belgrad relativ flach gewesen, meist an der Donau entlang, ging es jetzt zum ersten Mal wieder hoch in die Berge. Bei schier unerträglichen 45 Grad sei das Rudnik-Gebirge eine echte Herausforderung gewesen, schildert Borrmann den weiteren Verlauf seines Marsches. Entlang des Flusses Ibar, Richtung Kosovo, begleiteten den Wanderer Unmengen von Abfall am Straßenrand, teils gefährlich wirkende wilde Hunde und „überall, wo ich hinkam, stets gastfreundliche und hilfsbereite Menschen.“
Beeindruckend die geteilte Stadt Mitrovica. Wie zwei Welten wirkten der albanische, muslimische Süden und der serbische, christlich-orthodoxe Norden. „Ich soll in Deutschland davon berichten, dass der Kosovo gefahrlos besucht werden könne“, gibt Borrmann einen häufig geäußerten Wunsch wieder. Und auch in Mazedonien, einem der ärmsten Länder Europas, begegnete ihm stets großherzige Gastfreundschaft. „Ich musste lernen, zu nehmen, ohne etwas zurückgeben zu können.“
In Griechenland ging es vorbei an Tabak- und Baumwollfeldern nach Kavala, wo der Wanderer am 13. September das Mittelmeer erreichte. „Das war ein sehr bewegender Moment“, erinnert sich Borrmann.
Inzwischen machte Burkard Schober seine Ankündigung wahr und begleitete seinen ehemaligen Mitarbeiter noch einmal elf Tage bei seiner Wanderung – von Alexandroupoli aus Richtung türkische Grenze. Mit der Fähre über die Dardanellen, einer Meerenge, die das Ägäische Meer mit dem Marmarameer verbindet, verließen die beiden Europa und setzten ihren Weg im asiatischen Teil der Türkei fort.
Während der Route durch die Türkei von Troja über Izmir zu den Kalksinterterrassen von Pamukkale, über das Taurusgebirge – „mit 1550 Metern der höchste Punkt der Reise“ –, luden unzählige Autofahrer Borrmann ein, ein Stück mitzufahren. „Niemand verstand, dass ich zu Fuß gehen wollte“, erzählt er lachend. In Antalya am Mittelmeer begegnete er Matthias und Anke aus Thüringen, die ebenfalls nach Jerusalem unterwegs waren, und schloss sich ihnen an. Groß war die Enttäuschung darüber, dass die Fähre von Alanya nach Zypern den Betrieb wegen der Wintersaison bereits eingestellt hatte. Für die drei bedeutete dies einen zusätzlichen Marsch von 280 Kilometern bis zum nächsten Fährhafen in Tasucu. Da auch von Zypern keine Fähre nach Israel ablegte, überwanden die drei Reisenden das Meer mit dem Flugzeug und kamen in Tel Aviv in ihrem Zielland an.
Doch von dort marschierten Stefan und das Pärchen aus Thüringen nicht etwa geradewegs die 70 Kilometer nach Jerusalem. Um lückenlos weiterzulaufen, gingen sie zunächst nach Norden zum ursprünglich angepeilten Fährhafen Akko und strebten von da aus über Nazareth, Jericho und dem Canyon Wadi Kelt der heiligen Stadt zu.
Durchs Löwentor in die Altstadt
„Wir wurden immer aufgeregter, je näher wir Jerusalem kamen“, erinnert sich Borrmann. „Emotional sehr bewegend“, beschreibt er ihre Ankunft am 12. Dezember. „Jetzt ist es vorbei mit dem Laufen“: Dieser Gedanke sei ihm ständig im Kopf herumgeschwirrt. „Die Freude war groß und hielt lange an – gleichzeitig war die Vorfreude und Erwartung plötzlich weg“, beschreibt Stefan die zwiespältigen Gefühle.
Über das Löwentor betraten die drei Wanderer die Altstadt. Gemeinsam besuchten Stefan, Matthias und Anke die historischen Orte: den Felsendom auf dem Tempelberg, die Grabeskirche, den Garten Gethsemane am Fuße des Ölbergs und die Klagemauer. Ihrer gemeinsame Zeit ließen die drei mit ein paar Ruhetagen am Schwarzen Meer ausklingen.
„Das Schönste war, dass mir jeder Tag immer wieder aufs Neue völlig offen stand“, schwärmt Borrmann von seiner Tour. „Und natürlich die vielen, vielen tollen Begegnungen mit anderen Menschen.“ Nach und nach sei aus seinem Unterwegssein eine Pilgerreise geworden. „Ich fühlte mich eins mit der Schöpfung und dem Göttlichen“, beschreibt Borrmann seine Empfindungen.
Seit 10. Januar ist er übrigens wieder an seiner alten Arbeitsstelle tätig. Das Leben sei jetzt nicht anders als vorher, aber das Denken habe sich nach der Reise verändert. „Ich weiß jetzt, dass es immer irgendwie weitergeht und ich keine Angst zu haben brauche.“