Die alte Frau tut mir leid. Wir begegnen uns im Treppenhaus. Sie steht unten beim Eingang und sieht seufzend nach oben. So viele Stufen bis zu ihrer Wohnung! Eine schwere Einkaufstasche hält sie in ihrer Hand. "Ich trag' ihnen das rasch hoch", sage ich zu ihr. Die Frau lächelt. Sie kennt mich schon von Kindesbeinen an: "Schön, dich zu sehen!" sagt sie. "Bist du mal wieder Zuhause? Hast du Urlaub?"
Mein Angebot lehnt sie freundlich ab. "Ach lass mal, das schaff ich schon. Die paar Konservendosen kann ich doch alleine tragen!" Ein diskreter Blick lässt mich ahnen, dass in dem großen Stoffbeutel weit mehr als nur ein paar Dosen stecken. Sicher hat sie deshalb auch nichts dagegen, dass ich keinen Einwand dulde und ihr die Einkaufstasche sanft aus der Hand nehme. Ich staune über das Gewicht. "Da haben Sie wohl für die ganze Woche eingekauft, nicht wahr?" Die Frau lächelt verlegen. "Na ja, irgendwann gehen eben die Vorräte aus!" Es klingt fast wie eine Entschuldigung, als sie dann noch hinzufügt: "Ab und zu will ich auch mal unter die Leute. Trotz Corona. Den ganzen Tag in der Wohnung bleiben, da fällt mir die Decke auf den Kopf!"
Gewiss hatte der Apostel Paulus nicht an die Konservendosen der alten Frau gedacht, als er in seinem Brief an die Galater schrieb: "Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen!" (Galater 6,2) Diesen Auftrag hören wir im Gottesdienst als Wochenspruch. Ob man ihn als Verhaltenstipp für diese Tage verstehen kann?
Wir fürchten ein Virus, das man nicht sehen kann. Doch es ist da und macht sich immer wieder bemerkbar. Die Last, unter der viele Menschen heute leiden, kann man ebenfalls nicht sehen: die Einsamkeit, Angst, Isolation, Traurigkeit, Ratlosigkeit. Diese Last stemmt man wohl nicht allein dadurch, dass man eine Einkaufstasche nach oben trägt. Oder vielleicht doch?
Das Gesetz Christi, das wir erfüllen sollen, ist nicht auf Papier, sondern in unsere Herzen geschrieben. Wir können es mit fünf Buchstaben zusammenfassen: Liebe. Das Gesetz Christi appelliert an unser Mitgefühl, hilft uns, darauf zu achten, was gerade dran ist. Die Liebe sorgt dafür, dass wir schnell merken, was die Not wenden kann. Es sind oft die kleinen Dinge, die viel Großes bewirken können. Ein freundliches Wort, ein Telefonanruf oder ein spontaner Besuch helfen, die Last etwas erträglicher zu machen. Und wenn es nur ein paar Stufen in einem Treppenhaus ohne Fahrstuhl sind, die man gemeinsam zurücklegt.
Der Autor Stefan Köttig ist evangelischer Pfarrer in Altenstein und Hafenpreppach.