Angefangen hat alles im September 1919. Damals bekam Rudolf Steiner den Auftrag, in Stuttgart eine Schule zu betreuen, in der die Kinder von Arbeitern der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik unterrichtet wurden. Die pädagogische Bewegung, die Steiner entwickelte und an dieser Schule erstmals zur Anwendung brachte, trägt bis heute den Namen des Zigarettenherstellers. Mittlerweile gibt es weltweit mehr als 1100 Waldorfschulen und 1800 Waldorfkindergärten. Zum 100-jährigen Jubiläum der Waldorfpädagogik gibt es nun ein Festjahr mit zahlreichen Veranstaltungen – auch in Haßfurt.
"Es ist eine Pädagogik, die vom Entwicklungsstand des Schülers ausgeht", antwortet Joachim Brohm auf die Frage, wie er die Waldorfpädagogik kurz beschreiben würde. "Es ist eine entwicklungsorientierte Pädagogik, keine lernzielorientierte Pädagogik", sagt er Lehrer, der seit der Gründung der Haßfurter Waldorfschule im Jahr 2000 dort unterrichtet. Teil dieser Pädagogik ist es, dass Schüler nicht "sitzenbleiben", sondern von der ersten bis zur letzten Klasse zusammen unterrichtet werden. Noten seien dadurch nicht nötig, zumindest nicht in den unteren Klassen.
"Das Konzept ist auf eine ganzheitliche Entwicklung ausgelegt", sagt Cornelia Fuchs, deren Kinder den Waldorfkindergarten und die Waldorfschule in Haßfurt besuchen. Wichtig sei die Sicht aufs Kind, "es kann sich nach seinem Tempo und seinen Möglichkeiten entwickeln", sagt sie. Besonders mit Blick auf ihre jüngste Tochter im Kindergarten meint sie: "Ein Kind darf Kind sein und spielen."
Kein vorgefertigtes Spielzeug
Die Kreativität der Kinder soll im Waldorfkindergarten auch dadurch gefördert werden, dass es keine vorgefertigten Spielsachen gibt. Stattdessen gibt es beispielsweise Tücher und Hölzer, erklärt die Erzieherin und Kindergartenleiterin Karin Scheuering: "Die Sachen sind vielseitig einsetzbar. Das kann mal ein Telefon sein und mal ein Auto."
Auch in der Waldorfschule wird ein größerer Fokus auf künstlerischen, kreativen und handwerklichen Unterricht gelegt, als in staatlichen Schulen. So gibt es durch die gesamte Schulzeit immer wieder handwerklichen Unterricht, die Kinder und Jugendlichen können Schmieden, mit Ton arbeiten oder Steine bearbeiten. Joachim Brohm spricht von "Fächern, die den ganzen Menschen fordern". Denn: "Nur in der Kunst ist der Mensch ganz Mensch."
Die Unterschiede zwischen der Waldorf-Pädagogik und dem System der staatlichen Schulen macht einige Kompromisse nötig, berichtet Brohm. Denn der Waldorfschul-Abschluss, den die Jugendlichen am Ende der 12. Klasse machen, ist staatlich nicht anerkannt, und so gibt es eine 13. Klasse, die die Schüler dann auf die staatlichen Abschlüsse – je nach Wunsch und Fähigkeiten der Schüler das Abitur oder die Mittlere Reife – vorbereitet. "Es ist ein Spagat", sagt der Lehrer dazu, dass er und seine Kollegen die Schüler nach Rudolf Steiners Pädagogik unterrichten, sie aber auch auf einen Schulabschluss vorbereiten wollen, der stark auf den Unterricht in den staatlichen Schulen zugeschnitten ist. Trotz einiger Kompromisse versuchen die Waldorf-Lehrer, die zwölf Waldorf-Schuljahre so weit wie möglich von der Prüfungsvorbereitung freizuhalten.
Und wie steht der Lehrer Joachim Brohm zu der Kritik, die Schüler würden dadurch nicht genug auf ihre Abschlüsse vorbereitet? "Wenn es nur darum geht, das Abitur so gut wie möglich zu machen, wird man sicher auf einem Gymnasium besser darauf vorbereitet", sagt er. Die Waldorfschule habe eigene Lehrpläne und setze andere Schwerpunkte. Die Möglichkeit, nach dem Abschluss der Waldorfschule auch das staatlich anerkannte Abitur oder die Mittlere Reife zu machen, sei dann eher ein Zubrot, auch wenn sich fast alle Schüler dafür entscheiden. Und auch das gelingt in den meisten Fällen.
Die Anthroposophie, also die Menschenlehre nach Rudolf Steiner, geht von einer Entwicklung des Menschen in Siebenjahresschritten aus, wobei jedem "Jahrsiebt" eine andere Entwicklungsaufgabe zukommt. Daraus begründet sich beispielsweise, dass es im Waldorfkindergarten noch nicht darum gehen soll, Sachwissen zu vermitteln. Denn im ersten Jahrsiebt stehe die körperliche Entwicklung im Vordergrund. Cornelia Fuchs sagt, es gehe vor allem um einen "gesunden Entwicklungsraum", in dem die Kinder eine glückliche Kindheit, Gemeinschaft und gemeinsames Spielen erleben können.
Ökologie spielt eine große Rolle
Ein weiterer Punkt, auf den in Waldorf-Einrichtungen großer Wert gelegt wird, ist der Umgang mit der Natur. Der Kindergartenleitung und den Eltern ist es wichtig, die Kinder viel im Garten spielen zu lassen, auch Waldtage gehören zum Konzept. In der Schule gibt es unter anderem Gartenbau als Fach. Sowohl in der Schule als auch im Kindergarten wird bei dem verwendeten Material, vom Spielzeug bis zu den Möbeln, auf ökologische Produkte gesetzt. Auch das Essen, das Kinder und Jugendliche bekommen, ist aus Bioprodukten zubereitet und ausschließlich vegetarisch.
Auf die Frage, ob auch das zu einem besonderen Zulauf zu Waldorf-Einrichtungen führt, gerade in Zeiten, in denen immer mehr Menschen den Klimawandel als ernstzunehmendes Problem erkennen, meint Scheuering: "Ich kann das nicht so festmachen." Der Zulauf sei in jedem Fall groß. "Wir sind voll. Es gibt mehr Anfragen als wir aufnehmen können", sagt die Kindergartenleiterin. Ob aber die immer stärkere öffentliche Diskussion über den Klimawandel und die "Fridays for Future"-Demonstrationen den Waldorf-Einrichtungen noch mehr Anmeldungen bescheren, könne sie nicht sagen. "Es gab schon immer Menschen, die sich dafür interessiert haben."
Auch an der Waldorfschule steigen die Schülerzahlen. Lehrer Brohm kann sich durchaus vorstellen, dass ein Zusammenhang besteht zwischen dem größeren Zulauf und dem wachsenden Bewusstsein der Bevölkerung für den Klimaschutz. Langfristig plane die Haßfurter Waldorfschule sogar, sich irgendwann als plastikfreie Schule bezeichnen zu können. Ein weiterer Plan, der die Schule attraktiver machen soll, ist ein Neubau des Schulgebäudes, der voraussichtlich im Herbst beginnt.
Umgang mit den Medien
Bei aller Liebe zur Natur stellt sich auch die Frage nach dem Umgang mit moderner Technik und der digitalen Welt. "Hier besteht nicht die Gefahr, dass das Kind ein Tablet in die Hand bekommt", beklagt Cornelia Fuchs, dass mit dem Thema Medienkompetenz in vielen anderen Bildungseinrichtungen falsch umgegangen werde. So würde darunter oft verstanden, den Kindern schon möglichst früh die Funktionsweise von Computer, Handy und Co. beizubringen. Dabei sei der technische Umgang mit den Geräten auch im späteren Kindes- oder Jugendalter noch recht schnell zu lernen. Wenn es um Medienkompetenz gehe, müssten sie vielmehr lernen, mit den Inhalten richtig umzugehen. Dafür sei es aber nicht nötig, schon im Kindergarten die Geräte zu bedienen.
Das heißt aber nicht, dass Medienkompetenz in der Waldorf-Pädagogik gar keine Rolle spielt. "Wir sind nicht mit Rudolf Steiner am Beginn des 20. Jahrhunderts stehengeblieben", sagt Joachim Brohm. Ab dem 8. Schuljahr gibt es das Schulfach Medienkompetenz, die Haßfurter Schule ist sogar die erste und bisher auch einzige deutsche Waldorfschule, die einen Medienraum und einen Medienpädagogen als Fachkraft für diesen Unterricht hat.
So stellt sich die Frage, wie viel von Rudolf Steiner noch in der heutigen Realität der Waldorf-Einrichtungen steckt und ob sich die Bewegung auch ein Stück weit von ihrem Gründer emanzipiert hat – ähnlich wie beispielsweise die evangelische Kirche, die mittlerweile eine gewisse kritische Distanz zu Martin Luther aufgebaut hat. Kindergartenleiterin Scheuering betont, dass Steiners Schriften immer noch eine große Rolle spielen und die Grundlage der Pädagogik darstellen; auch wenn Steiner selbst vor allem die Schule aufgebaut und die Gründung des ersten Waldorfkindergartens nicht mehr mitbekommen hatte. Joachim Brohm erklärt, dass zwar die Form der Pädagogik auf Steiner zurückgeht, seine Lehre aber im Schulalltag nicht auftauche. Die Antroposophie ist also kein Thema des Schulstoffs.
Und dann bleibt da noch die Frage nach dem wohl bekanntesten Klischee über die Waldorfschule: Geht es den Pädagogen eigentlich auf die Nerven, in der Öffentlichkeit vor allem auf das berühmte "Namen Tanzen" reduziert zu werden? "Es ist traurig, dass sich Leute ein Urteil bilden, ohne Hintergrundwissen zu haben", meint Kindergartenleiterin Scheuering. Joachim Brohm nimmt es gelassen. "Da sind wir vollkommen schmerzfrei." Das sei eben das eine Klischee, das sich festgesetzt hat. "Da können wir mit Humor drüberstehen", sagt er. "Ich glaube auch, dass die meisten unserer Schüler das gar nicht können."
Im Waldorfkindergarten findet diese Woche noch die Waldorfwoche statt, die das Jubiläum der Waldorfpädagogik feiert. Hierzu gibt es diverse Abendveranstaltungen, die am Samstag mit dem Sommerfest mit Johannifeuer enden. Weitere Infos unter www.waldorfkindergarten-hassfurt.de
Siehe hier: "100 Jahre Waldorfschule 2019: 100 Jahre Pädagogik aus dem Esoterik-Baukasten"
https://hpd.de/artikel/100-jahre-paedagogik-dem-esoterik-baukasten-15645