Auf ihrem Schreibtisch stapeln sich Aktenordner. Dicke und dünne. Kerstin Rieger liest sie alle. Das bringt der Beruf mit sich. Genauso wie die Besuche bei ihren Mandanten im Gefängnis und die Verhandlungen bei Gericht. Kerstin Rieger ist Rechtsanwältin in der Kanzlei Windfelder & Kollegen in Haßfurt und gleichzeitig der einzige weibliche Fachanwalt für Strafrecht im Landkreis Haßberge.
Im Strafrecht geht es um die wirklich schweren Fälle. Um Betäubungsmittelmissbrauch, Körperverletzung, Totschlag oder Mord beispielsweise. Wer Kerstin Rieger als Verteidigerin vor Gericht engagiert, den erwarten bei Verurteilung nicht selten langjährige Haftstrafen. „Schwere Jungs“ sind die Klienten der 36-Jährigen. Das Strafrecht hatte es der Schweinfurterin schon während ihres Studiums im Praktikum angetan. Dass das Strafrecht unter Anwälten trotz aller Emanzipation auch heute noch eine echte Männerdomäne ist, stört die junge Frau nicht.
„Das schafft man in Haßfurt nicht“, hatten erfahrene Rechtsanwälte ihrer Kollegin gesagt, als die von ihren Plänen erzählte, die Zusatzqualifikation „Fachanwalt für Strafrecht“ zu erwerben. Mindestens 60 Fälle auf verschiedenen Gebieten wie Betäubungsmittelmissbrauch, Betrug und Tötung muss ein Anwalt während der dreijährigen Ausbildung zum Fachanwalt bestreiten, dazu kommen Kurse an der Universität. Und für 60 solcher Fälle innerhalb von drei Jahren sei im Raum Haßfurt einfach zu wenig los, hatten die Kollegen gesagt. Am Ende der drei Jahre blickte die Rechtsanwältin allerdings auf deutlich mehr als die geforderte Anzahl an Fällen zurück, weil sie sich nicht auf Mandanten aus der Umgebung beschränkte, sondern die Verteidigung für Angeklagte aus ganz Unterfranken übernahm.
„Im Knast läuft die Werbung über Mund-zu-Mund-Propaganda“, sagt die Schweinfurterin. Die Häftlinge tauschen sich untereinander über ihre Erfahrungen mit Anwälten aus, geben Telefonnummern weiter. Und wenn eine Frau im Gefängnis auftaucht, dann ist das ohnehin ein Highlight für die Insassen, weiß Kerstin Rieger aus ihren Erfahrungen in sieben Jahren als Rechtsanwältin.
Besonders viel Zeit an ihrem Schreibtisch in ihrem Büro in der Hofheimer Straße in Haßfurt verbringt sie nicht. Kerstin Rieger ist viel unterwegs. Wenn sie nicht gerade im Gerichtssaal für ihre überwiegend männlichen Mandanten kämpft, pendelt sie zwischen den Justizvollzugsanstalten in Würzburg, Bamberg und Hof von einem Termin zum nächsten. Angst um ihr eigenes Leben verspürt sie dabei keine. Selbst wenn sie beispielsweise mit einem wegen Mordes Angeklagten von der Außenwelt abgeschottet in einem Besuchszimmer über die Tat oder die anstehende Verhandlung spricht. Da mag auch der Umstand helfen, dass die Schweinfurterin Trägerin des braunen Karategürtels ist und sich notfalls wohl zu verteidigen wüsste.
Emotionen sind im Umgang mit den Mandanten aber grundsätzlich fehl am Platz. „Man muss als Anwalt unvoreingenommen an einen Fall rangehen. Um jemanden zu verteidigen, muss ich eine Distanz einhalten. Das ist nicht immer leicht“, sagt Kerstin Rieger. Zumal sie mit ihren Mandanten intensive Gespräche führt. Die müssen mit offenen Karten spielen, müssen ihrer Anwältin die Wahrheit sagen. „Sonst kann ich sie nicht verteidigen. Oft kommt die ganze Wahrheit nur häppchenweise. Mit der Zeit kriegt man es allerdings schon mit, wenn ein Mandant lügt.“
Nicht immer ist ein Freispruch das Ziel der Anwältin. Auch wenn die Sachlage klar ist, geht es darum, zu schauen, was noch möglich ist. „Auch bei eindeutigen Geschichten lässt sich noch viel bewegen. Jeder Monat weniger in Haft ist für meine Mandanten von Bedeutung“, weiß Kerstin Rieger. Moralische Bedenken sind da fehl am Platz. „Vor Gericht will ich immer gewinnen. Oder zumindest das Bestmögliche rausholen, sei es ein Freispruch oder eine geringere Strafe“, sagt die Anwältin, die sich im Gerichtssaal schon mal Anfeindungen der Zuschauer ausgesetzt sieht. Wie kann man als Frau jemanden verteidigen, der sein eigenes Kind misshandelt hat – das ist so ein Vorwurf, den die 36-Jährige bereits zu hören bekam. Was sie in so einem Fall tut? „Ignorieren“, lautet Kerstin Riegers knappe Antwort. Moralische Bedenken gegenüber dem Mandanten darf sie nicht haben. Käme sie einmal in einen Gewissenskonflikt, müsste sie – aus Fairness dem Klienten gegenüber – den Fall abgeben. Bisher kam das aber noch nicht vor. Das ständige Hin-und-Her zwischen Gerichtssaal, JVA und Büro macht der Anwältin Spaß. „Strafrecht“, sagt sie, „das ist genau mein Ding.“
Unter Tel. 0151/122 673 33 ist Kerstin Rieger im Strafrechtsnotdienst auch außerhalb der Bürozeiten erreichbar.
Zur Person
Kerstin Rieger, 1976 in Schweinfurt geboren, machte 1996 ihr Abitur und begann im April 1997 ihr Jurastudium an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg. Nach Erhalt eines Stipendiums absolvierte Kerstin Rieger ein Auslandssemester in der Schweiz. Danach setzte die Schweinfurterin ihr Studium in Würzburg fort und schloss ihr Jurastudium 2003 mit dem ersten juristischen Staatsexamen mit einem Prädikatsexamen ab. Das Referendariat absolvierte sie im Landgerichtsbezirk Würzburg und schloss dieses 2005 mit der zweiten juristischen Staatsprüfung ab.
Im Anschluss an das zweite juristische Staatsexamen im Juli 2005 begann Kerstin Rieger mit ihrer Dissertation mit dem Thema „Gendiagnostik im Strafverfahren“.
Ab März 2006 war Kerstin Rieger im Rechtsanwaltskammerbezirk Freiburg als Rechtsanwältin zugelassen und in der Kanzlei Scheid im Bezirk der Rechtsanwaltskammer Freiburg tätig. Seit Oktober 2006 arbeitet Kerstin Rieger im Bezirk der Rechtsanwaltskammer Bamberg und in der Kanzlei Windfelder in Haßfurt als Rechtsanwältin. Nachdem sie zusätzlich den Fachanwaltskurs „Strafrecht“ an der Universität Hagen besucht hat, ist Kerstin Rieger heute der einzige weibliche Fachanwalt für Strafrecht im Landkreis Haßberge.