Ein „moralisches Totalurteil“ über die Rolle der evangelischen Landeskirche in Bayern und einzelne Akteure in und nach der NS-Zeit wolle er nicht fällen, sagte Björn Mensing. Doch zu einer Aufarbeitung gehöre „auch die Benennung aller Seiten“. Nämlich die Ambivalenz zu beleuchten zwischen allgemeiner Anpassung der meisten Protestanten an den NS-Staat und individuellem Widerstand einzelner. Bei der Kirchenleitung sei eine selbstkritische Sicht der Verstrickung seit Landesbischof Hermann von Loewenich (Amtszeit 1994 bis 1999) angekommen: „In der breiten kirchlichen Bevölkerung noch nicht, wie die Debatten um Straßenumbenennungen zeigen“, bedauerte Mensing und machte immer noch eine „falsch verstandene Loyalität“ nach dem Motto „Er war doch so ein guter Pfarrer“ aus.
Der promovierte Historiker und Pfarrer an der Evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau stellte auf Einladung des Historischen Vereins Bamberg und der Evangelischen Erwachsenenbildung im Stephanshof neue Forschungsergebnisse aus der einschlägigen Geschichte vor. „Vom früheren SS-Offizier bis zum KZ-Überlebenden – Ungleiche Karrieren in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern nach 1945“ war Mensings Referat überschrieben.
Lebenslauf gefälscht
Seine Zuhörerschaft war sensibilisiert. Denn der Fall des Bamberger Pfarrers Alfred Schemmel – aufgedeckt durch Recherchen dieser Redaktion im Herbst 2017 – ist noch in lebhafter Erinnerung. Alfred Schemmel (1905 bis 1987), der seit 1946 in der Erlösergemeinde Amtsaushilfen in der Pfarrei leistete und danach als Religionslehrer an der damaligen Berufs- und Handelsschule fungierte, war im Zweiten Weltkrieg als Mitglied der Waffen-SS mit der Nummer 430416 und als SS-Hauptsturmführer im KZ Auschwitz-Birkenau im Einsatz. Dass Schemmel – „Onkel Fred“ – mit seinem Vorleben überhaupt eine Anstellung in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern gefunden hat, liegt auf der Hand: Der gebürtige Siebenbürger Sachse hatte seinen handschriftlich verfassten Lebenslauf gefälscht, wie dieser in seiner Personalakte im Landeskirchlichen Archiv in Nürnberg dokumentiert ist.
Referent Björn Mensing nannte an diesem Abend im Stephanshof noch einen zweiten belasteten Bamberger Namen: Dr. theol. Günter Schlichting (1911 bis 1989), von 1963 bis zum Ruhestand 1975 Dekan des evangelisch-lutherischen Dekanatsbezirks Bamberg und 1. Pfarrer von St. Stephan. Mensing bescheinigte diesem Mann „üble Propaganda gegen Juden“ in seiner Arbeit am Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Forschungsabteilung Judenfrage, mit Sitz in München. Schlichting sei seit 1930 NSDAP-Mitglied gewesen, auch zur SA habe er gehört. Anders als bei Schemmel sei die Kirchenleitung bei der Übernahme Schlichtings über dessen NS-Vergangenheit informiert gewesen. Erst 1982 habe Schlichting im Vorwort einer Studie eine Art öffentliches Schuldbekenntnis abgelegt.
NS-Belastete integriert
„Die Landeskirche integrierte nach 1945 NS-Belastete“, erklärte Mensing und führte den damaligen Landesbischof Hans Meiser (1881 bis 1956) als maßgeblichen Fürsprecher dieser Pfarrer und anderer Mitarbeiter an. Der Referent verzichtete in seinen Ausführungen auf eine Bewertung Meisers, mahnte jedoch „bei allem Erschrecken vor dem Versagen“ eine historische Perspektive vor einem Urteil an.
Umso deutlicher wurde Björn Mensing, als er die über Jahrzehnte fehlende Erinnerungskultur der Landeskirche hinsichtlich der Pfarrer beklagte, die widerständig gewesen waren und für ihre Überzeugungen ins KZ kamen: „Es waren nur zwei Pfarrer aus der Landeskirche“. Nämlich Karl Steinbauer (1906 bis 1988), ein Mitglied der Bekennenden Kirche, wurde wegen seiner flammenden Predigten über die Unvereinbarkeit von Evangelium und Nationalsozialismus mehrfach von den Nazi-Schergen verhaftet und schließlich ins KZ Sachsenhausen transportiert. Der zweite Widerständler war Wolfgang Niederstraßer (1907 bis 1981), der unter anderem 1942 in einem Trauergottesdienst für Gefallene das NS-Regime angeprangert hatte. Der mutige Mahner landete im KZ Dachau.
Beide Pfarrer überlebten das Terrorregime Hitlers und Konsorten. Der Ansbacher Kirchenjurist Friedrich von Praun dagegen verlor sein Leben. Er gilt als der einzige Vertreter der Pfarrer- und Beamtenschaft der bayerischen Landeskirche, der wegen Widerstands gegen das NS-Regime sterben musste. Von Praun wurde am Morgen des 19. April 1944 tot in seiner Zelle in Nürnberg gefunden. Offizielle Todesursache: Selbstmord durch Erhängen. „Die genauen Todesumstände sind bis heute ungeklärt, vermutlich in den Suizid getrieben“, so Mensing.
Wenige Tage zuvor habe das Sondergericht Nürnberg den Fall von Praun an den Volksgerichtshof verwiesen wegen des Verdachts auf den Tatbestand der Wehrkraftzersetzung: „Darauf stand die Todesstrafe, was von Praun wusste.“ Friedrich von Praun sei 1943 denunziert worden, weil er Zweifel am deutschen Sieg geäußert habe. Zu Konflikten mit der NSDAP „war es bereits im Frühjahr 1933 gekommen, als er das Hissen der Hakenkreuzfahne am kirchlichen Amtsgebäude verweigerte“, berichtete Mensing.
Jahrelang hat Kirchenrat Mensing neben seiner Arbeit als Pfarrer in der KZ-Gedenkstätte Dachau in Archiven nach früheren Nazis gefahndet, die nach Kriegsende als Pfarrer oder Juristen tätig waren. Dieses Forschungsprojekt hatte die bayerische Landeskirche aufgrund der Zeitungs-Enthüllungen über Alfred Schemmel anberaumt. Akten von etwa 2800 Mitarbeitern, die zwischen 1945 bis 1958 im Dienst der Landeskirche standen, hat Mensing durchforsten lassen. „Die Auswertung von 11.000 Seiten Archivalien leisten jetzt hoffentlich andere Fachleute“, sagt Mensing.