Tschernobyl eine ukrainische Kleinstadt im Norden des Landes, die erstmals 1183 Erwähnung fand zählte im Jahre 1986 noch 3000 Einwohner und ist rund 18 Kilometer vom gleichnamigen Kernkraftwerk mit dem historischen Namen W.I. Lenin entfernt. Jenem Werk, das am 26. April 1986 um 1.26 Uhr den größten atomaren Unfall bis dahin verzeichnen musste. Ein Versuch, der beweisen sollte, dass bei völligem Stromausfall die auslaufenden Turbinen genug Energie liefern, um die Kühlung aufrechtzuerhalten, war wohl verbunden mit nicht beachteten Sicherheitsvorkehrungen ausschlaggebend für den GAU (Größter anzunehmender Unfall).
Soweit zur Historie, doch wie sieht es derzeit aus in dem für lange Zeit verstrahlten Gebiet?
Die zwei Haßbergler Wolfgang Brühl und Johannes Leitgeb machten sich auf den etwas ungewöhnlichen Weg dorthin, um zu erkunden, wie es bestellt ist um das 30 Kilomter große Sperrgebiet. Chernobyl.wel.com sollte als Reiseleitung dienen, ein von drei möglichen Gesellschaften, die sich auf Reisen in die „Zone“ spezialisiert haben. Alle Formalitäten (Einreiseerlaubnis, Hotelbuchung, Verpflegung) wurden im Vorfeld übernommen.
Das Gebiet mit einer Ausdehnung von 2600 Quadratkilometern umfasst damit etwa 2,5 Mal so viel wie unser Landkreis Haßberge. Schon bei der Einfahrt kommen wir an die erste Kontrollstation, bei der die Reisepässe kontrolliert werden und das Fotografieren der Übergangsstelle nicht erlaubt ist.
Der Hinweis von Tanya Bezßalika, unserer sehr gut englischsprechenden Reiseführerin „Willkommen, bitte verhalten Sie sich so, wie in einem riesigen Open-Air-Museum“ lässt erahnen, wie die Zeit hier seit 1986 stehengeblieben ist. Uns erscheint das Umland der Sperrzone wie „Ostblockmentalität“, dieser Begriff umschreibt sicherlich am besten – zumindest für die Generation, die es noch kennt –, wie wir uns fühlen.
So, jetzt noch eine Unterschrift: Was darf ich alles hier nicht machen (nichts mitnehmen, nichts aus der Natur verzehren, Fotoapparate nicht auf den Boden legen......), die Tour kann beginnen.
Zur Begleitung gibt es noch Alexej, ein ehemaliger Polizist aus Prypjat, dem 86 vorhergesagt wurde, er lebe nur noch fünf Jahre.
Die Zahlen der Toten dieses Unglücks sind bis dato nicht genau definiert. Liquidatoren, die an einer akuten Strahlenkrankheit starben, Erkrankungen von grauem Star, Leukämie und Herz-Kreislauf sowie Kinder, die an Schilddrüsenkrebs erkrankten sind unstrittig.
Die Internationale Atomenergiebehörde geht von 4000 Menschen aus, die infolge der Katastrophe an Krebs sterben. Interessant dazu aber auch, dass der ehemalige Umweltberater von Boris Jelzin, Jablowkow, von 1,44 Millionen Toten weltweit ausgeht.
In der Zone, wie das Gebiet bei den Einheimischen genannt wird, gibt sich ein erstes Bild folgendermaßen: Wildpferde grasen in einer unberührten Natur, völlig unbeeindruckt von dem, was außenherum passiert – oder eben nicht.
Vereinzelt sichtbar waren auch Hirsche im Wald, die für einen Laien völlig normal wirken. Es ist vielleicht etwas wie ein Nationalpark, der keine Bewirtschaftung erfährt und sich selbst überlassen wird.
Nun erreichen wir die Stadt Tschernobyl, 18 Kilometer vom Reaktor entfernt. Stopp und Photoshooting, das muss sein, doch was macht hier die Strahlung? Der Geigerzähler misst 0,17 mSv (Millisievert).
Ein in Deutschland lebender Mensch erhält eine durchschnittliche Dosis von 2,4 mSv pro Jahr, dazu zählen natürliche Strahlung, Röntgen oder auch Langstreckenflüge. In Notfällen in Deutschland beträgt die Schwelle für eine Evakuierung 100 mSv in sieben Tagen. Beruhigend? Na ja, ein etwas flaues Gefühl bleibt zunächst.
Zunächst erwartet uns das übliche „Touristenprogramm“, Monumente von Lenin, ein neues, das Tschernobyl und Fukushima symbolisiert, und eine Kirche inmitten der Stadt, die glänzt, als sei hier nie etwas geschehen.
Mittags checken wir im einzigen Hotel des Ortes ein, man staune, es arbeiten in der Zone etwa 3000 Personen. Größtenteils am KKW. Weißbrot, Lachs, Salat und typisch Borscht werden im Sowjetstil serviert. Nur der lächelnde Gesichtsausdruck unserer Reiseleiterin Tanya lässt erkennen, dass wir uns nicht im Jahre 86 in der UdSSR befinden. Immerhin, am Abend erfahren wir, dass es hier auch ukrainisches Bier zum Preis von umgerechnet 0,75 Euro für einen halben Liter gibt.
Nach dem Mittag, Weiterfahrt nach Prypjat, der Arbeiterstadt, die für die Beschäftigten des Atomkraftwerkes extra 1970 gebaut wurde. Auch hier an der Einfahrt zur Stadt das obligatorische Bild mit einer zuvor verteilten FFB-Maske, die wohl nur für Fotozwecke dienen sollte. Knapp 50 000 Einwohner zählte die Stadt zum Zeitpunkt des Unfalles. Heute – die am meisten verstrahlte Stadt – unbewohnbar.
Ist es nicht gefährlich hier, so meine Frage? Aufenthalte, die nur für kurze Zeit dauern, kein Problem, versichert uns Tanya.
Zunächst der Besuch eines Kindergartens, der so scheint, fluchtartig verlassen wurde. Puppen, Bettgestelle und Schlafplätze – alles liegt hier so, als ob gerade verlassen – nur der Staub und die modrigen Wände zeugen davon, dass es fast 30 Jahre her ist, dass hier Kinder lebten. Das Messgerät zeigt jetzt 15,7 mSv. – deutlich mehr als bisher.
Das Hotel Polissya, einst das höchste Gebäude der Stadt, bietet, wenn man sich nach oben gearbeitet hat, vom Dach aus einen beeindruckenden Blick auf die Stadt. Im Hintergrund lauert derweil der fast fertige Sarkophag, der 2017 über Block 4 gefahren werden soll. Im Hotel selbst? Nicht viel übrig geblieben, teilweise von Plünderern geraubt, der Rest von Liquidatoren entsorgt. Überall gleiche Bilder, fluchtartig verlassene Häuser, ein Theater, eine Bibliothek, die für jeden Buchliebhaber Tausende wertvolle Schätze vorhält, und sogar ein Hallenbad, das durchaus modern im Baustil wirkt.
Es muss hier pulsiert haben das Leben, das berühmte Riesenrad im nie eröffneten Vergnügungspark und die verrotteten Autoscooter sind alles Bilder, die weltweit bekannt sind, aber live erlebt einen ganz anderen Eindruck hinterlassen.
Auch ein Fußballstadion – als solches nur noch erkennbar an der Tribüne, ansonsten rund zehn Meter hohe Bäume auf dem Feld, interessant zu sehen, wie schnell unberührt Vegetation entsteht.
Ein besonderes Schmankerl hatte Alexej für uns, er zeigte uns voller Stolz seine alte Arbeitsstätte, die Polizeistation, mit zahlreichen Arrestzellen, für was die wohl da waren? Unverständliches Gebrummel...
Am Hinterausgang dann die Feuerwehrstation, die alarmiert wurde, als alles Unglück begann. Geräte? Fehlanzeige, alles von den Operatoren entsorgt.
Am nächsten Tag dann zunächst eine Fahrt durch den Wald, Checkpoint passieren, diesmal nur mit einer Liste unseres Reisebegleiters. Der Wald bietet hier ein seltsames Bild, die Kiefern sind alle vom Boden her ein Drittel mit Rinde nach oben dann sieht es aus wie ohne Rinde, die Kronen grün. Nichts Ungewöhnliches jedoch, was ich mir von einem Förster im Landkreis erklären ließ.
Die Fahrt geht nun zu Duga 3, einer 1973 in Bau genommenen Radaranlage von 150 m Höhe und 700 m Breite, die schon damals bis zur Inbetriebnahme 1976 Kosten in Höhe von 7 Milliarden Rubel in Anspruch nahm. (Vergleich 1976: 1 Rubel entsprach 1 US-Dollar). Mit einer Reichweite von bis zu 15 000 Kilometern beklagten viele Menschen weltweit, dass das auf Kurzwelle gesendete Signal erheblich die Radiosender störte. Auch hier erfolgte nach der Katastrophe die Stilllegung der Anlage.
Dann gegen 12.00 Uhr ist es soweit. Die Ankündigung „Wir fahren nun zu Block 4“, lässt die aus zwölf Teilnehmern bestehende Gruppe einen Moment innehalten.
Nach einem Zwischenstopp am Dnjepr, dem Fluss, aus dem das Kühlwasser stammte, an dessen Ufer noch heute verrottete Fische anspülen, und einer verlassenen Fischfarm, die nach 1986 für Versuche diente, dann endlich die Einfahrt Richtung Kraftwerk.
Gigantisch von weitem schon zu erkennen die riesige Stahlhülle von 110 m Höhe und 260 m Breite, genannt Sarkophag, die auf Teflonschienen zunächst 2015 – jetzt 2017 über die Ruine gefahren werden soll. Der alte aus Beton bestehende Sarkophag hat nach 30 Jahren Löcher und ist nicht mehr dicht.
Fotos dürfen auch hier nicht gemacht werden, allerdings wartet unser „Aufpasser“ so lange, bis auch der letzte der Gruppe bereits ein Foto auf dem Handy hat. 36 000 Tonnen Stahl werden dort verarbeitet. Die Pariser Kathedrale Notre Dame hätte Platz in dieser riesigen Konstruktion, die von einem französischen Konsortium gebaut wird.
Am Eingang von Block 4 dann Schluss, immerhin 150 m vom Gebäude entfernt, eine Distanz, die der Gruppe ausreicht. Schnell noch ein Foto und dann zurück in den Bus, der wie ein Schutz wirkt, jedoch jedem bewusst ist, dass er keiner ist.
Der Geigerzähler misst hier 1,93 mSv., fast unglaublich niedrig. Dies ist jedoch nur möglich, weil Tonnen von Sand abgetragen wurden und die Oberfläche mit Asphalt und Beton versiegelt wurde. Nur so ist es möglich, dass in so kurzer Distanz gearbeitet werden kann.
Nun noch schnell die Tafel (Monument) mit denen, die als Erste ihr Leben lassen mussten – hauptsächlich Feuerwehrleute, die ohne geeignete Schutzausrüstung nach der Explosion tonnenweise Wasser in den Herd pumpten.
Sie hatten nach kurzer Zeit die tödliche Dosis erreicht und erlagen einer akuten Strahlenkrankheit mit Übelkeit, Erbrechen und Absterben der Haut.
„Helden, genau wie die vielen Tausend Liquidatoren, denen es zu verdanken ist, dass noch Schlimmeres verhindert werden konnte“, so Tanya und der Tenor der gesamten Gruppe.
Schwer beeindruckt gab es auf der Rückreise noch einen alten Fahrzeugpark zu sehen, Fahrzeuge die im Einsatz waren und (angeblich) dekontaminiert wurden, wer weiß.
Auch leben im Sperrgebiet heute Menschen, die in ihre Heimat zurück wollten. Ein Ehepaar davon besuchten wir. Herr und Frau Iwanowitsch, verheiratet seit 1958 und gut über 80 Jahre alt, sind 1988 in ihr Haus zurückgekehrt. Ohne Strom, Fernsehen oder Radio bauen sie Kartoffeln, Karotten, Porree und andere Gemüse an, das uns Herr Iwanowitsch stolz präsentiert. Die Hühner sehen vielleicht etwas groß aus, vielleicht ist es aber auch Einbildung, denn irgendetwas muss hier ja verändert sein, so viele Gedankengänge der Reiseteilnehmer. „Dobre den“ und ein gutgelaunter Besitzer ist bereit, uns seinen Hof zu zeigen, etwas misstrauisch ist da schon seine Frau, immerhin einen Spalt weit öffnet sie die Türe und beäugt die Fremden.
Bleibt bei allem Beeindruckenden die tiefe Erkenntnis, dass durch Menschen verursacht ganze Landstriche auf Jahrhunderte unbewohnbar bleiben, sicher auch mit Ausnahmen, wie das ältere Ehepaar zeigt, jedoch für uns „Westeuropäer“ wäre ein längerer Aufenthalt höchst gefährlich für die Gesundheit.
Der Tourismus nimmt zu und verspricht im arg gebeutelten Land Ukraine eine kleine Einnahmequelle, der Service und die Organisation der Tour lässt jedenfalls keine Kritik zu.
Am Ausgang Checkpoint 2 noch eine Kontrolle von Schuhen und Händen samt Fahrzeug, ob nicht zu viel Strahlung mitgenommen wurde, danach Rückfahrt Richtung Kiew. Der Maidan in Kiew, sicherlich auch nicht Ausdruck der Moderne, wirkt jetzt nach der Tour wie eine andere Welt.