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„Tolerant zu sein gehört zum Christsein“
Das Interview führte Peter Schmieder
 |  aktualisiert: 15.12.2020 15:11 Uhr

Heiner Geißler ist einer der Autoren, die am Haßfurter Literaturfestival lesen werden. Der 87-Jährige kann auf ein sehr facettenreiches Leben zurückblicken: Nach dem Abitur trat er als Novize dem Jesuitenorden bei. Das dauerhafte Gelübde legte er jedoch nicht ab – nach vier Jahren verließ er den Orden wieder. Es folgten das Studium der Philosophie und Rechtswissenschaften sowie die Promotion.

Danach arbeitete er zunächst als Richter, später machte er Karriere in der Politik und war unter anderem Bundesminister und Generalsekretär der CDU. Mittlerweile widmet er sich in seinen Büchern wieder verstärkt religiösen Themen. Am 26. April liest Heiner Geißler im Rahmen des Haßfurter Literaturfestivals in der Stadthalle aus seinem Buch „Was müsste Luther heute sagen?“, in dem sich der Katholik kritisch mit Entwicklungen innerhalb der Kirche auseinandersetzt. Zwar kam kein gemeinsamer Termin für ein Interview zustande, doch schriftlich beantwortete der Autor dem Haßfurter Tagblatt einige Fragen.

HT: In Ihrem Buch „Was müsste Luther heute sagen?“ beschäftigen Sie sich damit, was sich in der katholischen Kirche heute ändern sollte. Als junger Mann waren sie selbst Novize bei den Jesuiten und haben den Orden erst kurz vor dem endgültigen Gelübde verlassen. Wie wird aus jemandem, der überlegt hat, sein Leben in einem Orden zu verbringen, ein Mensch, der zwar gläubiger Christ ist, aber durchaus laute Kritik an der eigenen Kirche äußert?

Heiner Geißler: Jeder intelligente Katholik ist in seinem Innern auch immer ein Protestant. Protestieren muss jeder vernünftige Mensch, vor allem wenn ihm das Evangelium wichtig ist, gegen die Dogmenherrschaft der Glaubenskongregation, die Nachfolgerin der Inquisition, vor allem auch gegen deren Praxis unter dem Kardinal Ratzinger und dem jetzigen Präfekten Gerhard Müller. Diese Institution ist verantwortlich zum Beispiel für den Entzug der Lehrerlaubnis für den wichtigsten Theologen der katholischen Kirche der letzten Jahrzehnte, Hans Küng, oder zum Beispiel die Vertuschung der Missbrauchsfälle durch katholische Priester. Hadrian VI., der Papst in den Anfangsjahren der Reformation, erklärte wörtlich vor dem Reichstag in Nürnberg: „Das Erzübel der Kirche ist die Kurie.“ Daran hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert und der jetzige Papst ist das beste Beispiel dafür, dass es im Interesse der christlichen Botschaft liegt, die theologische und geistige Vormacht der Kurie zu beseitigen. Was wir unter Kirche verstehen, ist nicht identisch mit der Kurie, der vatikanischen Bürokratie und den verschiedenen Ministerien des Vatikans, auch Kongregationen genannt. Die Kirche ist die Gemeinschaft aller getauften Christen, zu denen nach meiner Auffassung auch die evangelischen Christen gehören. Das II. Vatikanische Konzil hat ausdrücklich erklärt, dass auch die Taufe in der evangelischen Kirche den gleichen Wert hat wie die katholische Taufe. Außerdem ist Widerstand notwendig gegen die nach wie vor vorhandene Diskriminierung der Frauen durch die katholische Theologie, die für das Verbot des Frauenpriestertums, das Verbot der Empfängnisverhütung und der Sakralisierung der Ehe Gott in Anspruch nimmt und durch diese blasphemische Behauptung den Glauben an Gott gefährdet.

Warum hängen Sie die Frage, was sich in den christlichen Kirchen ändern müsste, gerade an der Figur des Reformators Luther auf? Bräuchte es unbedingt eine starke Einzelperson, die zum „Gesicht einer Bewegung“ wird, um etwas zu verändern? Funktionieren Ideen nicht ohne Symbolfigur?

Luther war keine Symbolfigur, sondern ein Reformer der damals vorherrschenden Theologie. Was man heute von Luther lernen kann, ist das, was Churchill einmal die wichtigste Eigenschaft in der Politik genannt hat, nämlich vor allem auch den Mut, Widerstand zu leisten, gegen „eine Wirtschaftsordnung, die tötet“, wie Papst Franziskus gesagt hat, die die Verantwortung trägt für den Hunger, das Flüchtlingselend und den Tod von Millionen Menschen.

Halten Sie es denn für realistisch, dass sich in den Kirchen etwas ändert? Auch Martin Luther konnte ja sein Ziel nicht so umsetzen, wie er wollte: Statt die Kirche zu verändern, hat er sie gespalten. Könnte das heute anders laufen?

Als Reaktion auf Luther hat die katholische Kirche noch zu Luthers Lebzeiten auf dem Konzil von Trient notwendige Reformen beschlossen, allerdings unvollständig und in den Augen der Protestanten nicht weitgehend genug. Das von Papst Johannes XXIII. einberufene II. Vatikanische Konzil hat bedeutende Reformen auch im Sinne der Reformation beschlossen: die Einführung der Volkssprache in die Liturgie, die eine Taufe, den Primat der Schrift, echte Volksgottesdienste ohne Klerikersprache, Volkssprache und Laienkelch. Es gehört zur Tradition der katholischen Kirche, sich als „ecclesia semper reformanda“, also als Kirche, die ständig reformiert werden muss, zu bezeichnen.

Inwieweit haben Sie sich mit Luther auch kritischer auseinandergesetzt? Der Reformator wird gerne als Symbol für Verbesserungen und Fortschritt gesehen, dabei gibt es ja durchaus kritische Stimmen, die sagen, wir würden ihn zu sehr idealisieren. Beispielsweise wird ihm vorgeworfen, durch seinen starken Glauben an Hexerei eine große Mitschuld daran zu tragen, dass gerade hierzulande so viele Menschen auf den Scheiterhaufen ums Leben kamen. Auch seine Judenfeindlichkeit war durchaus stärker ausgeprägt, als zu seiner Zeit üblich. Taugt Luther wirklich zum Vorbild?

Luther war nicht Jesus, sondern ein normaler Mensch und auch ein Kind der damaligen öffentlichen Meinung. Sein Teufels- und Hexenglaube waren ebenso falsch wie seine Haltung zu den Bauernaufständen und den jüdischen Gemeinden. Er war ein Kind seiner Zeit, die Gegnerschaft zu den Bauern war begründet darin, dass er verhindern wollte, dass seine Theologie politisch instrumentalisiert werden sollte und seine Feindschaft gegen die Juden in deren Weigerung begründet, Jesus als Messias anzuerkennen und Luthers neue Theologie zu akzeptieren. Die Schrift gegen die Juden ist so schrecklich, dass man sich wünschen müsste, dass Luther fünf Jahre früher gestorben wäre.

Ein weiterer Kritikpunkt, der in jüngster Vergangenheit am Reformator geäußert wurde: Martin Luther begründete praktisch seine ganze Kritik an der katholischen Kirche mit der Bibel und plädierte dafür, nur noch die Schrift als Maß aller Dinge zu nehmen. In einer Zeit, in der sich die Kirche in eine negative Richtung von der Bibel entfernt hatte, hat er damit sicher einiges verbessert. Beispielsweise ließ sich weder der Ablasshandel mit der Bibel begründen, noch ein Verbot, die Bibel in die Sprache des Volkes zu übersetzen, ähnlich wie viele andere Praktiken, mit denen das Volk klein gehalten wurde. Heute dagegen sind es die liberalen, vernünftigen Christen, die die Bibel interpretieren und ihren Glauben dadurch mit Wissenschaft und Menschenrechten in Einklang bringen. Auch Päpste akzeptieren heute die Evolutionstheorie und lehnen den Kampf gegen Un- oder Andersgläubige ab. Dafür werfen ihnen radikalere christliche Gruppen oft vor, ihre Form des Christentums habe nichts mehr mit der Heiligen Schrift zu tun und begründen das mit einer sehr wörtlichen Lesart der Bibel. (Im Islam ist es derzeit noch schlimmer: Terroristen morden im Namen eines wörtlich genommenen Korans, während die vernünftigen Muslime vor ihnen fliehen.) Würde Luther da nicht heute im Streit um eine Öffnung der Kirchen gerade auf der falschen Seite stehen?

Der Vorrang der Heiligen Schrift wird auch von der katholischen Theologie anerkannt. Allerdings machen beide Theologien, die katholische und die evangelische, nach meiner Überzeugung den Fehler – das war auch der entscheidende Fehler bei Luther – dass sie das Alte Testament und die Apostelbriefe als „Heilige Schrift“ betrachten. Grundlage für eine moderne Theologie kann nur das Neue Testament sein, das heißt die Jesuanische Botschaft. Das Neue Testament mit dem Koran zu vergleichen, ist ungefähr so intelligent wie den „Lederstrumpf“ auf eine Stufe zu setzen mit Faust I. und II. von Johann Wolfgang von Goethe.

Ich habe in meinem Studium (Ich bin Historiker, hatte aber auch viel Kontakt zu Studierenden anderer Fakultäten) einige Theologiestudenten kennengelernt, die eine große Verachtung für den „Volksglauben“ zum Ausdruck brachten. Sie konnten miteinander hoch philosophisch über theologische Fragen diskutieren, sagten mir aber deutlich, dass die „vereinfachte“ Religion, nach der wohl über 90 Prozent der gläubigen Christen ihr Gottesbild formen, mit ihrem Glauben praktisch nichts zu tun hätte. Wenn manche Theologen so denken, haben wir uns dann wirklich weit von der Zeit entfernt, in der dem einfachen Volk Wissen vorenthalten wurde, indem Gottesdienste auf Latein stattfanden?

Was Ihre Theologiestudenten betrifft, die ich nicht kenne, gehören sie ja gerade zu den Studierenden einer Inzuchtwissenschaft, nämlich der Theologie, die das voraussetzt, was sie eigentlich erst begründen müsste, nämlich die Existenz Gottes. Nichts hat dem Glauben an Gott mehr geschadet als bestimmte Gottesvorstellungen der Theologie beider Konfessionen.

Mal abgesehen von möglichen Veränderungen innerhalb der Kirche: Wie sollte denn das Verhältnis von Christen zu Anders- oder Ungläubigen aussehen?

Das Verhältnis von Christen zu Andersdenkenden muss sich an Jesus orientieren: Jesus kannte keine Grenzen. Er half der Tochter der Syrophönizierin genauso wie dem Diener des römischen Hauptmanns, den Aussätzigen in Galiläa und den Behinderten auf Bethesda in Jerusalem. Er besuchte die Samariter und blieb drei Tage bei ihnen, obwohl sie in den Augen der rechtgläubigen Juden Renegaten und Apostaten waren. Und er war ein Freund der Frauen und schützte sie vor den Sanktionen der jüdischen Obrigkeit. Das heißt tolerant zu sein, gehört zum Christsein. Auf seiner ersten Pressekonferenz sagte Papst Franziskus zu einer Reihe von Journalisten, die ihm als Atheisten oder Agnostiker bekannt waren: tuet etwas Gutes, dann haben wir auch etwas Gemeinsames.

Zum Schluss die Frage, die wir allen Autoren stellen: War ihnen der Name Haßfurt ein Begriff, bevor Sie zu diesem Literaturfestival eingeladen wurden?

Haßfurt kannte ich bisher nur von der Autobahnausfahrt auf der A 70 auf dem Weg zu den Bayreuther Festspielen. Ich freue mich, dass ich beim ersten Literaturfestival mitmachen kann.

Festivalprogramm

Das Programm des Literaturfestivals vom 20. bis 30. April: • Entfällt: 20. April, Martin Walser, „Statt etwas oder Der letzte Rank“ • 21. April, 16.00 Uhr, Stadthalle: Paul Maar „Schiefe Märchen und schräge Geschichten“

• 21. April, 19.30 Uhr, Stadthalle: Klaus Peter Wolf, „Ostfriesentod“

• 22. April, 19.30 Uhr, Stadthalle: Bas Böttcher, „Die verkuppelten Worte“

• 23. April, 15.00 Uhr, Stadthalle: Finn-Ole Heinrich, „Frerk der Zwerg“

• 24. April, 10.00 Uhr, Grundschule: Finn-Ole Heinrich, „Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt“

• 25. April, 10.00 Uhr, Grundschule: Ursula Poznanski, „Elanus“

• 25. April, 19.30 Uhr, Stadthalle: Axel Hacke, „Das kolumnistische Manifest“

• 26. April, 19.30 Uhr, Stadthalle: Heiner Geißler, „Was müsste Luther heute sagen“

• 27. April, 19.30 Uhr Stadthalle: Benedict Wells, „Vom Ende der Einsamkeit“

• 28. April, 19.30 Uhr, Stadthalle: Amelie Fried, „Ich fühle was, was Du nicht fühlst“

• 29. April, 19.30 Uhr, Stadthalle: Fritz Egner, „Mein Leben zwischen Rhythm & Blues“

• 30. April, 15.00 Uhr, Stadthalle: Alexandra Helmig, „Kosmo und Klax“

 
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