Die Bundesbank hat im März ihre Wachstumsprognose für die deutsche Wirtschaft auf 1,5 Prozent nach oben korrigiert, die Arbeitslosigkeit im Land ist niedrig, die Verbraucher seien in Konsumlaune, behaupten die Wirtschaftsforschungsinstitute; auch das Bruttoinlandsprodukt soll kräftiger steigen als im Herbst erwartet. Da geht es also auch den Arbeitnehmern gut – die sollen am 1. Mai feiern und können sich die Kundgebungen sparen?
„Ja, schön wär's“ nimmt Sabine Schmidt, Vorsitzende des Linksbündnisses im Haßbergkreis, die Frage nicht wirklich ernst. „Was den Firmen zugute kommt, kommt schon lange nicht mehr automatisch bei den Arbeitnehmern an.“ Und die Linken-Politikerin beklagt boomende Leiharbeit und einen ausufernden Niedriglohnsektor auch in der Region, spricht davon, dass immer mehr Unternehmen die Tarifflucht ergreifen oder stellt fest, dass der psychische Druck auf die Beschäftigten immer gewaltiger wird. Was soll sie als Vertreterin der Linken auch anderes verkünden, könnte man meinen.
Doch auch für Joachim Unterländer bleibt der 1. Mai ein unverzichtbarer Feiertag für die Arbeitnehmer und ihre Rechte. Der Münchner Landtagsabgeordnete ist Landesvorsitzender der Christlich Sozialen Arbeitnehmerschaft Bayerns, der CSA, des Arbeitnehmerflügels der CSU also – und daher kaum verdächtig, allzu sozialistischen Ideen anzuhängen. „Unser Land hat nur eine Zukunft, wenn es sozialen Frieden und sozialen Ausgleich gibt“, hat Unterländer dieser Tage am Ende des CSA-Aufrufs zum 1. Mai geschrieben.
Den sozialen Frieden im Land sieht er unter anderem dadurch gefährdet, dass immer mehr Unternehmen auch ohne betriebswirtschaftliche Notwendigkeit ins Ausland verkauft oder verlagert würden und dabei die Standortqualität und die Situation der Mitarbeiter nicht ausreichend gewürdigt würden. Im Gespräch mit unserer Zeitung am Dienstag bekannte sich der CSA-Landesvorsitzende „ungeachtet aller bürokratischen Auswüchse“ zum Mindestlohn, drückte seine Sorge aus, dass die geplanten Freihandelsabkommen TTIP oder CETA soziale Standards aushöhlen könnten und forderte, den Stellenwert sozialer Berufe, insbesondere in der Erziehung und Pflege, besser zu stellen. Auch der CSA bereitet die Tarifflucht Sorgen, „es ist eindeutig zu wenig, dass in vielen Bereichen weniger als 40 Prozent aller Arbeitsverhältnisse von einem Tarifvertrag gedeckt sind.“
Im Ringen um das Wohl der Arbeitnehmer scheint Unterländer und seinen Mitstreitern in der CSA ein Spagat zu gelingen: Der Politiker spricht von einer guten Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, aber auch mit den Unternehmen, gerade dem Mittelstand; auch mit dem Arbeitgeberflügel seiner Partei gebe es keine Probleme – „ein klassisches Lagerdenken gibt es bei uns in der CSU sowieso nicht“, sagte er am Dienstag. Man sei sich des „C“ im Parteinamen bewusst: „Unser christliches Weltbild stellt die Würde des Einzelnen auch in der Arbeitswelt in den Mittelpunkt und unterstreicht die Solidarität mit den Schwächeren“, erklärte Unterländer.
Das klingt zumindest in der Theorie schön. Rudi Reinhart kennt vor allem die Praxis, die Nöte, Sorgen und Ängste des Arbeitsfaktors Mensch. Er ist seit fünf Jahren Betriebsseelsorger im Dekanat Haßberge, auch sein Handeln ist geleitet von der christlichen Soziallehre. Seine Beobachtung ist eindeutig: Der Leistungsdruck und der psychische Druck auf die Mitarbeiter wird immer größer. Die Folge sei eine Zunahme von psychischen und körperlichen Erkrankungen, verbunden mit einem Scheitern oftmals auch im privaten Bereich. „Zu mir kommen Menschen, die keine Lust mehr haben zu leben“, wollte Reinhart am Montag im Gespräch mit dem HT die Floskel „Jammern auf hohem Niveau“ nicht mehr hören.
Für den zunehmenden Kapitalismus, der Reinhart ängstigt und der dem christlichen Menschenbild widerspreche, hat der Katholik einen Erklärungsansatz. In der jüngeren Vergangenheit hätten immer mehr Betriebe Investoren an Bord geholt oder seien an die Börse gegangen – den betriebswirtschaftlichen Sinn bestreitet Reinhart nicht. Doch die Konsequenz sei, dass Anleger nun Renditen wünschten, die im Konflikt zu den Interessen der Belegschaft stünden. Rudi Reinhart erinnert sich an die Haßfurter Unternehmerpersönlichkeit Georg Engelhardt (Möbel Engelhardt). „Der hat seinen Mitarbeitern das Gefühl vermittelt, dass sie wertvoll sind“. In vielen Betrieben müsse die Belegschaft heute spüren, dass sie vor allem zu teuer sei. Dass die Gehälter der Führungskräfte im Vergleich zum Fußvolk in den letzten Jahren sprunghaft gestiegen sind, ist für den Betriebsseelsorger dabei kein Widerspruch. Es sei die logische Folge, weil den Managern die harte Aufgabe zufalle, die Interessen der Investoren oftmals gegen das Wohl der Beschäftigten durchzuboxen.
„Die einen füttert man, die anderen drückt man“, beschreibt es Sabine Schmidt ähnlich; für sie gilt das aber nicht nur für die Führungsebene gegen einfache Arbeiter, sondern quer durch die Belegschaft – als gezieltes Instrument, die Solidarisierung der Arbeitnehmer zu unterbinden. Auch Rudi Reinhart sieht die Tendenz zu Entsolidarisierung der Arbeitnehmer. Das habe fatale Folgen, sagt er. „Einzelkämpfer kommen im Betrieb immer unter die Räder“, denn Arbeitgeber verstünden es stets, ihre Rechte geltend zu machen.
Anna Schlechter, die Vorsitzende des DGB-Kreisverbandes Haßberge, wünscht sich deshalb eine viel stärkere Mitbestimmung von Arbeitern und Angestellten in den Betrieben, dort, wo die Politik eben nicht hinkomme. „Und wir müssen eine Sprache sprechen, sonst haben wir verloren“, sagte die Gewerkschafterin am Dienstag gegenüber unserer Zeitung. „Die Musketiere haben es doch vorgemacht: Einer für alle, alle für einen – so können wir den großen Betrieben etwas entgegensetzen.“ Die Realität hat sie aber auch gelehrt, dass die Musketiere vielerorts Angst haben, einen Betriebsrat zu gründen oder sich in der Arbeitnehmervertretung zu engagieren. Dabei sieht Schlechter genug Missstände in der Region, gegen die sich Mitarbeiter zu Wehr setzen müssten: Unbezahlte und schlecht bezahlte Überstunden in Form von Schwarzarbeit, die Zunahme von Leiharbeit und der Trend zu Werkverträgen „ohne jede Planungssicherheit über ein Jahr hinaus und zu deutlich schlechteren Konditionen als die Stammbelegschaft“.
Sabine Schmidt, Joachim Unterländer, Rudi Reinhart und Anna Schlechter sind sich darin einig, dass der 1. Mai ein Tag sein sollte, an dem sich alle Arbeitnehmer bewusst mir ihrer Situation in der Arbeitswelt und den Belangen aller Arbeitnehmer auseinander setzen sollten. Es gehe bei den Maikundgebungen ja nicht darum, ob die Belegschaft im Betrieb X einen Tag mehr Urlaub oder die Arbeiter in der Firma Y 50 Cent die Stunde mehr bekommen. Es gehe ums Ganze. Ob Deutschland wirtschaftlich stark bleiben kann und sich trotzdem weiterhin das „sozial“ der Marktwirtschaft verdient. Darum ob es gelingt, die immer weiter auseinanderklaffende Schere in der Vermögens- und Einkommensverteilung wieder ein Stück weit zuzuklappen.
„Viele Firmen nehmen ihre Verantwortung für die Gesellschaft nicht mehr wahr“, bedauerte Rudi Reinhart. Anna Schlechter beklagt den viel zu großen Einfluss der Industrielobby auf die Politik, „die die Hand, die sie füttert, nicht beißen wird.“ Sabine Schmidt sieht aufgrund von Lohndumping und Hartz IV und dergleichen eine (Alters-)Armutslawine auf uns zurollen, „die unserer Volkswirtschaft enormen Schaden zufügen wird“. Und wie schreibt Joachim Unterländer am Ende des CSA-Aufrufs zum 1. Mai: Eine Zukunft gebe es nur, „wenn es sozialen Frieden und sozialen Ausgleich gibt“ – egal ob an der Nordseeküste, am Alpenrand oder im Haßbergkreis.