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HASSBERGKREIS
„Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen!“
Einmarsch in Polen: Deutsche Soldaten reißen am 1. September 1939 einen Schlagbaum an der deutsch-polnischen Grenze nieder.
Foto: DPA | Einmarsch in Polen: Deutsche Soldaten reißen am 1. September 1939 einen Schlagbaum an der deutsch-polnischen Grenze nieder.
Von unserem Redaktionsmitglied Peter Schmieder
 |  aktualisiert: 15.12.2020 15:25 Uhr

Wo warst du, als es passiert ist? Seien es nun die vier WM-Siege der deutschen Fußballnationalmannschaft, die Wahl eines deutschen Papstes, die Anschläge auf das World Trade Center oder das Attentat auf John F. Kennedy – es gibt Ereignisse, bei denen sich jeder von uns noch Jahrzehnte später daran erinnert, wo er war und was er gemacht hat, als er davon erfuhr. Zumindest, wenn er schon alt genug war, um die Bedeutung dieses Moments zu begreifen.

Ein solches Ereignis jährt sich am heutigen Montag: Vor 75 Jahren, am 1. September 1939, übertrug das Radio kurz nach 10 Uhr eine Rede von Adolf Hitler. Dieser behauptete, Polen hätten deutsche Soldaten beschossen. Damals wusste noch keiner, was uns heute bekannt ist: Die Nazis hatten den polnischen Überfall selbst inszeniert, um ihren Angriff auf das Nachbarland zu rechtfertigen. „Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen!“ Mit diesem Satz begann der Zweite Weltkrieg.

„Ich weiß das noch wie heute“, erzählt Albert Meyer, der damals in Schweinfurt wohnte. Der spätere CSU-Landtagsabgeordnete war damals 13 Jahre alt und saß gemeinsam mit seinem Vater vor dem Radio, als die Hitler-Rede übertragen wurde. Sogar an die Marke des Radios erinnert er sich noch: „Es war ein SABA.“ Meyer berichtet auch von der ersten Reaktion seines Vaters. Dieser stand den Nationalsozialisten sehr kritisch gegenüber und kommentierte die Rede sofort: „Der Krieg ist nicht zu gewinnen.“ Aus heutiger Sicht sicher eine richtige Einschätzung, wenn man sich anschaut, welcher Übermacht an Gegnern Deutschland damals gegenüberstand.

Dennoch war Albert Meyer in diesem Moment klar, dass er damals niemandem von der Äußerung seines Vaters erzählen durfte. „Wir wussten, dass es gefährlich war, sich gegen das Regime zu äußern.“ Zwar wusste er in diesem Moment, dass es „ungemütlich“ werden würde, dennoch gibt er zu: „Ich konnte mir als 13-Jähriger noch kein Bild machen, wie schlimm ein Krieg wird.“

So richtig die erste Einschätzung seines Vaters war, nachdem immer mehr Erfolgsmeldungen verbreitet wurden, begann auch der junge Albert Meyer, an einen deutschen Sieg zu glauben. Später wurde er zum Kriegsdienst eingezogen, kam jedoch – zu seinem Glück – nicht mehr zum Einsatz.

Zu seiner eigenen Einstellung zu den Nazis gibt er an: „Im Schlepptau meines Vaters habe ich das Regime gehasst.“ Dennoch wirkt er im Gespräch mit dem HT bescheiden und brüstet sich nicht damit, bereits damals ein Regimegegner gewesen zu sein. Denn ihm ist bewusst, dass er noch zu jung war, um sich eine eigene, differenzierte Meinung zu bilden, und daher eher die Regimekritik seines Vaters übernommen hatte.

Leo Maag, der bei Kriegsbeginn ebenfalls 13 Jahre alt war, ist der Meinung, dass die politischen Einstellungen eines Jugendlichen in diesem Alter vor allem durch das Umfeld bestimmt werden. So könne man den damaligen Jugendlichen heute nicht mehr vorwerfen, wenn sie dem Regime damals zu unkritisch gegenüberstanden. „Man muss das Umfeld sehen, um das zu verstehen“, meint er. Aus eigener Erfahrung berichtet Maag, der heute in Hainert lebt: „Ich war damals eingebunden in die Hitlerjugend, natürlich waren wir im Siegesrausch.“ Etwas später fügt er hinzu: „Woher hätten wir es anders wissen sollen?“

Aufgewachsen in Bamberg in einer ärmlichen Familie als Sohn einer Putzfrau und eines Reichsbahnmitarbeiters habe ihn sein Umfeld so eingenommen, „dass aus unserer Sicht mit Recht eingegriffen wurde“, als Hitler den Krieg begann. Und das, obwohl Maags Mutter als Putzfrau für eine jüdische Familie arbeitete: die Familie Fleischhacker, die schließlich aus Deutschland auswanderte, wie sich Maag erinnert. Anders als eine andere jüdische Familie, die er kannte und die eines Tages einfach verschwunden war. Eine weitere Familie, bei der seine Mutter putzte, war die von Thomas Dehler, der nach dem Krieg Justizminister in der jungen Bundesrepublik wurde. „Dr. Dehler war mit einer Jüdin verheiratet. Warum da nichts passiert ist, weiß ich nicht“, sagt Leo Maag, der in seinen jungen Jahren hinter dem Regime stand. Immerhin haben die Jugendorganisationen der Nazis „alles geboten, was Jungens Freude macht“. Damals besuchte er die Aufbauschule, das heutige ETA Hofmann Gymnasium. Ab 1939 spielte der junge Trompeter in der HJ-Kapelle, deren organisatorische Leitung er mit 16 Jahren übernahm. 1942 ging er sogar mit seiner Musikkapelle auf Tour durch das besetzte Polen. Als er dort auch einen Blick in eines der Ghettos warf, bekam er erstmals die Kehrseite der Medaille direkt zu sehen.

Für Leo Maag, der auch in der katholischen Kirche stark eingebunden war, stellte es keinen Widerspruch dar, gleichzeitig Ministrant und HJ-Führer zu sein, auch wenn er später erfuhr, dass dies nicht in allen Teilen Deutschlands so problemlos funktioniert hätte. Dennoch: Als er sich freiwillig meldete, wählte er bewusst keine SS-Einheit. Die „Schutzstaffel“ sei ihm irgendwie „nicht ganz geheuer“ gewesen.

Auch Hubert Steinmetz erinnert sich: „Wir waren halt Feuer und Flamme.“ Eingebunden im Jungvolk stand der gebürtige Goßmannsdorfer, der heute in Haßfurt lebt, hinter den Zielen der Nationalsozialisten. Er berichtet von Freizeitangeboten der Jugendorganisationen und vom Staatsjugendtag, der samstags eine Befreiung vom Schulunterricht brachte. „Es gab ein Heim in Goßmannsdorf, da gab es Schulungen und Spiele. Natürlich hat das die Jugend gelockt.“ Von seinem Heimatort aus fuhr er jeden Tag mit dem Fahrrad nach Hofheim, um dann mit dem Zug nach Haßfurt in die Schule zu kommen. „Für uns war es nicht so tragisch, wir waren ja noch Buben“, sagt er über seine Empfindungen beim Ausbruch des Krieges. Damals war er 14 Jahre alt. Sehr gut erinnert er sich noch daran, dass in Kriegszeiten die Fenster des „Hofheimer Zügle“ abgedunkelt waren, „es gab nur einen kleinen Strich für das Licht“. Lebendig ist auch seine Erinnerung an Willi Müller, einen Wehrmachtsflieger und Träger des Deutschen Kreuzes in Gold aus Ermershausen. Wenn er wieder in die Heimat kam, fuhr Müller oft mit den Schülern im Zug, dann kündigte er an: „Morgen komm ich wieder mit meinem Flieger zu euch.“ Und er hielt sein Wort: Am nächsten Morgen konnten die Jungen vom Schulhaus am Ziegelbrunn aus beobachten, wie der Flieger über dem Main ein paar Schleifen flog. „Er ist dann zum Schluss des Krieges abgestürzt, aber nicht hier. Er wurde in Goßmannsdorf beerdigt“, erinnert sich Steinmetz.

Auch über den alten Schuldirektor Markert, bei den Schülern bekannt als „der Rex“, berichtet Hubert Steinmetz. Dieser habe bei der Verabschiedung der Schüler, die eingezogen worden waren, gesagt: „In dieser großen Zeit dürfen wir nicht klein sein“, was sehr ironisch wirkt, da Markert selbst ein sehr kleiner Mann war. Markert sei es auch gewesen, dem Steinmetz es zu verdanken hatte, dass er bei der Einberufung zunächst zweimal zurückgestellt wurde, bevor er im Jahr 1943 doch zum Militär kam, genauer gesagt zum Panzerregiment 36 in Bamberg. Nach kurzer Zeit in Frankreich kam Steinmetz wieder nach Bamberg, da er als Schüler einer weiterführenden Schule eine Ausbildung als Offiziersanwärter erhielt. So verging noch einige Zeit, bis er letztlich in Riga zum Einsatz kam. Nach Kriegsende kam der Goßmannsdorfer in russische Gefangenschaft und musste in einem sibirischen Bergwerk arbeiten. „Das wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht“, sagt er heute über diese Zeit. Erst 1948 kam er nach Deutschland zurück.

Ein weiterer Mann, der heute in Haßfurt lebt und dem HT über seine Erinnerungen an den Kriegsbeginn berichtet, ist Gotthart Preiser. Von 1988 bis 1996 war er evangelischer Regionalbischof von Regensburg. Den Kriegsbeginn erlebte er als achtjähriges Pfarrerskind in Görlitz. „Wir wohnten nicht in einem Pfarrhaus, sondern in einer Mietswohnung im zweiten Stock. Unter uns wohnten zwei Frauen, die begeisterte nationalsozialistische Parteigenossinnen waren. Sie hatten schon einen Volksempfänger und luden unsere Familie ein: „Der Führer spricht!’“, berichtet Preiser von dem Moment, in dem er die Hitlerrede hörte, die den Krieg einleitete. „Beim Deutschlandlied mussten wir aufstehen, den rechten Arm zum Führergruß erheben und mitsingen.“

Auch erinnert sich Preiser daran, dass er in der Nähe der Bahnstrecke wohnte und so mitbekam, wie immer mehr Züge nach Osten fuhren. Und auch, dass er Lebensmittelmarken brauchte, wenn er Brötchen holen sollte, ist eine lebhafte Erinnerung. Für seinen Vater brachte der Kriegsbeginn mehr Arbeit als Seelsorger mit sich, denn viele Männer kamen vor ihrem Fronteinsatz zu ihm. „Schon bald erschien ein Mann in Zivil. Er sei von der Gestapo – ich wusste noch nicht, was das ist – und verlangte, sich mit in das Wartezimmer setzen zu dürfen, aber meine Mutter dürfe nicht sagen, wer er sei. Er kam jahrelang, um die Gespräche der Wartenden auf eventuelle staatsfeindliche Äußerungen zu belauschen.“

Gotthart Preiser berichtet, er habe diesen Mann als sehr unheimlich empfunden und er erinnere sich noch, dass er Nagel geheißen hat. „Er hatte sogar Humor, als meine Mutter ihn einmal mit ,Sargnagel' titulierte“, erzählt Preiser. Die zunehmenden Luftschutzübungen, die nun in der Schule durchgeführt wurden, empfanden die Schüler anfangs noch als nette Unterbrechung des Unterrichts, wie er berichtet. „Ohne zu ahnen, was das später bedeutete.“

Albert Meyer
| Albert Meyer
Leo Maag.
| Leo Maag.
Einmarsch in Polen: Deutsche Soldaten reißen am 1. September 1939 einen Schlagbaum an der deutsch-polnischen Grenze nieder.
Foto: DPA | Einmarsch in Polen: Deutsche Soldaten reißen am 1. September 1939 einen Schlagbaum an der deutsch-polnischen Grenze nieder.
„Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen!“: Adolf Hitler (am Rednerpult) begründet in seiner Rede vor dem Reichstag in Berlin am 1. September 1939 den Angriff auf Polen, mit dem der Zweite Weltkrieg begann.
Foto: dpa | „Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen!“: Adolf Hitler (am Rednerpult) begründet in seiner Rede vor dem Reichstag in Berlin am 1. September 1939 den Angriff auf Polen, mit dem der Zweite Weltkrieg begann.
 
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