Von März bis Juli 2018 war der Mundartdichter Helmut Haberkamm in ganz Franken unterwegs und besuchte kleine Orte. Sehr kleine Orte. Er sprach mit den Leuten, im Wirtshaus, auf der Straße, an Küchentischen und über den Gartenzaun hinweg. Was er wissen wollte: Wie lebt es sich abseits in Dörfern, in die gewöhnlich keiner kommt? Wie ist der Alltag an einem Ort, an dem jeder jeden kennt? Aus der Reise ist eine "Kleine Sammlung fränkischer Dörfer" in Buchform entstanden. Und Haberkamm kann nun einiges über Franken erzählen.
Herr Haberkamm, war Ihnen langweilig oder wollten Sie Ihre Heimat mal richtig kennenlernen?
Helmut Haberkamm: Ehrlich gesagt, ich dachte, ich kenne Franken einigermaßen gut, wurde aber eines Besseren belehrt. In einem wildfremden kleinen Ort mit völlig unbekannten Menschen ins Gespräch kommen, das gefällt mir schon immer. Ganz plötzlich gehen einem erst die Ohren auf, dann die Augen und der Sinn. Da ich derzeit noch freiberuflich tätig bin, hatte ich die Zeit und Muße für diese vielen Reisen und Gespräche. Es war eine unbezahlbar wertvolle Erfahrung für mich.
Fränkische Dörfchen, die nichts Besonderes an sich haben – wie sucht und wählt man die denn aus?
Haberkamm: Es gab Dutzende von Empfehlungen und Tipps, teils von Leuten, die von unserem Crowdfunding-Projekt erfahren hatten, teils von Leuten im Verlagsverteiler oder von Experten über bestimmte Regionen. So gab es mehr als 120 Vorschläge, die ich dann recherchierte, ob sie die Bedingung erfüllten: weniger als 150 Einwohner.
Und in wie vielen Orten waren Sie – und welche haben es ins Buch geschafft?
Haberkamm: Ich war dann in etwa 100 Orten und hab mich dort umgesehen, mit Einheimischen geredet und mir Informationen besorgt. Daraus entstand meine engere Auswahl mit jeweils fünf Dörfern aus jedem fränkischen Bezirk, dazu jeweils zwei aus Hohenlohe und Südthüringen, dem Henneberger Land. Nur Mittelfranken hat sechs Orte, weil einer genau an der Grenze zu Württemberg liegt und somit den Übergang bezeichnet.
Sind Sie in Orte gekommen, wo wirklich der Hund begraben lag, wo Sie also gar nichts hätten erzählen können?
Haberkamm: Natürlich kam ich auch in Dörfer, wo ich mich nicht wohl fühlte, die etwas Abweisendes, Zerrissenes oder Abgelebtes ausstrahlten. Eine solche Ortschaft wollte ich nicht erkunden und vorstellen. Mir ging es um positive Ausstrahlung, um etwas ganz Besonderes.
Was wissen und denken Sie jetzt von Franken?
Haberkamm: Erstaunt hat mich immer wieder die Vielfalt in dieser Region, ob sprachlich, kulturell oder historisch, aber auch im Menschlichen vor Ort. Ebenso der oft unauffällige Zusammenhalt in kleinen Orten, das Gemeinschaftsgefühl trotz aller Unterschiede und Zwistigkeiten.
Wo ist es am schönsten?
Haberkamm: Das ist absolut subjektiv und hängt vom eigenen Aufwachsen ab. Wer am Land groß wurde und das Glück hatte, diese Kindheit in guter Erinnerung zu haben, wird stets das Dorf als Inbegriff von Wohlgefühl in sich tragen. Wer dagegen das Ländliche als Enge, Strenge und Zwänge erlebt hat, flieht zeitlebens vor dieser Erfahrung in die Stadt. So wie Stadtflüchter aufs "Kaff" ziehen auf der Suche nach viel Raum, Ruhe, Natur und Luft zum Atmen.
Wo ist es am hässlichsten?
Haberkamm: Gewerbegebiete und Einkaufsmärkte sind überall genauso gesichtslos, öde und hässlich.
Der kleinste Ort, in dem Sie auf Ihrer Tour waren?
Haberkamm: Das kleinste kleine Dorf dürfte Lichtenau im Hafenlohrtal im Spessart gewesen sein.
Der Ort, der Sie am meisten überrascht hat?
Haberkamm: Da gab es etliche, etwa Weimarschmieden in der Rhön, das zu 90 Prozent aus Zugereisten besteht und als Dorf sehr gut funktioniert. Oder Dühren am Hesselberg, das nur 35 Einwohner aufweist, aber eine eigene Kirche besitzt. Ebenso Sachserhof bei Arnstein mit seinem Gotteshaus im Besitz der althergebrachten Schäfereigenossenschaft. Und Auernhofen bei Uffenheim, Unterregenbach im Gasttal, Döhlau im Kreis Sonneberg . . .
Wo haben Sie als Mittelfranke nichts verstanden, also dialektal?
Haberkamm: Schwer wird es in der Rhön, ansonsten war das Einhören kein Problem. Da ich selbst Dialektsprecher und ein Dorfkind vom Bauernhof bin und auch bewusst mundartlich gesprochen habe, war schnell ein Vertrauensverhältnis hergestellt, was gute, intensive Gespräche ergab.
Hat sich Ihr Heimat-Begriff verändert? Ihr Verständnis von Heimat?
Haberkamm: Was nachdrücklich bestärkt wurde, ist die Bedeutung des sozialen Miteinanders, ob in der Familie oder im Ort. Wie wichtig Gemeinschaft ist, Vereine, dass man zusammen anpackt und etwas auf die Beine stellt, ob das ein Fest ist mit viel Dorfschmuck wie in Steinbach oder ein Vereinshaus als Mittelpunkt der Dorfgemeinschaft wie etwa in Steindl oder Neuhof.
Wo in Unterfranken hat es Ihnen besonders gut gefallen? Wo haben Sie sich besonders wohl gefühlt?
Haberkamm: Ich wollte bewusst nicht in bekannte oder touristisch attraktive kleine Dörfer gehen, zum Beispiel am Main, sondern Unbekanntes und Unscheinbares entdecken. Deshalb gefiel mir Steinbach auf Anhieb, obwohl es kein Weingebiet ist und irgendwie zwischen allem liegt. Solche Dörfer sind näher an der Normalität und Wahrhaftigkeit. Auch Köslau in den Haßbergen ist so ein Beispiel, wo ich sehr kundige Menschen traf und äußerst ergiebige Gespräche führen konnte.
Woran merkt ein Mittelfranke, dass er in Unter- oder Oberfranken ist?
Haberkamm: Vor allem am Dialekt, aber auch an der Landschaft und Architektur, also an Weinbergen, Wäldern, Schiefer, Muschelkalk, Sandstein. Dann am Essen und Trinken: Bier und Wein, Beilagen, Würzung der Würste. Interessant ist, wie unterschiedlich das Licht und die Grüntöne der Wälder sind, wenn man Tauberfranken etwa mit dem Frankenwald, dem Steigerwald oder dem Pegnitztal vergleicht.
Das kurioseste, was Ihnen auf der Dörfer-Reise passiert ist?
Haberkamm: Dass auf allen Fotos, die ich zur Dokumentation gemacht habe, stets blauer Himmel und Sonnenschein zu sehen sind: 2018, das Jahr der Trockenheit und Hitze.
Die schönste Überraschung?
Haberkamm: Die Freundlichkeit und Offenheit der Gesprächsteilnehmer und Gesprächsteilnehmerinnen, sobald sie gemerkt hatten, dass es mir ernst war mit meinem Interesse an ihrem Leben und ihrem kleinen Ort in der Provinz. Dass ich gern zuhörte, dass mir die Verhältnisse oft aus meiner eigenen Dorferfahrung vertraut waren. Das hat sehr geholfen.
Was war für Sie die wichtigste Erkenntnis?
Haberkamm: Noch das kleinste, unauffälligste Dorf kann eine wahre Schatztruhe sein, vorausgesetzt man macht sich auf und redet mit den Einwohnern, lässt sich ein auf ihre Geschichten und erkundet die Vergangenheit, die Verhältnisse und Eigentümlichkeiten.
Und wo sollte man unbedingt mal hin?
Haberkamm: Die Erfahrung dieses Buches lautet: Nicht das Dorf ist entscheidend, sondern die Intensität, mit der wir uns den Menschen vor Ort und ihren Geschichten widmen. Macht man sich auf und erkundet ein unscheinbares Nest, wird es im Handumdrehen zu einer Fundgrube, einer Bereicherung, ja sogar zu einer Offenbarung.
Buchtipp: "Kleine Sammlung fränkischer Dörfer - Literarisches Sachbuch" von Helmut Haberkamm und Annalena Weber (Grafik und Illustration), Ars Vivendi Verlag Cadolzburg 2018, 224 Seiten, 25 Euro